Predigten
Das Gebot der Liebe - 1. Joh. 4, 16 - 21
Liebe ist, wenn es Landliebe ist.
Das, liebe Gemeinde, kennen Sie möglicherweise aus der Radio-Werbung. Wenn ich singen könnte, würde ich es vorsingen. Landliebe – das meint hier nicht, was es zu meinen scheint, sondern den Hersteller von Milchprodukten. Der Werbespot legt nahe, dass diejenigen, die diese Produkte kaufen, Joghurt mit Kirschgeschmack zum Beispiel, besonders liebevolle Menschen sind, weil sie den Joghurt sicher für ein Familienmitglied, Ehemann, Ehefrau oder Kinder, in den Einkaufswagen legen. Und wer dann den Joghurt isst, weiß: Ah, Mama liebt mich.
Ganz neu ist das Motiv nicht. Sie kennen vermutlich alle diese „Liebe ist …“- Cartoons, die allerlei Lebensweisheiten parat halten. In Andenken-Shops z. B. findet man die. Da heißt es dann zum Beispiel: „Liebe ist, wenn du ihm einfach nicht lange böse sein kannst.“ Oder: „Liebe ist, wenn sich seine Welt nur noch um dich dreht.“ Oder: „… Dein Brötchen mit ihm zu teilen.“ Oder: „… zu fragen, wie es deinen Freunden geht.“
Erfunden hat diese Cartoons eine Neuseeländerin, Kim Casali, die 1968 ihrem Mann Roberto damit eine Freude machen wollte. Dann waren die Cartoons in verschiedenen Zeitungen in den USA zu finden, und ab 1974 regelmäßig auch in der Bild-Zeitung – die ja für ihren besonders liebevollen Umgang mit Menschen bekannt ist.
In unserem heutigen Predigttext aus dem ersten Johannesbrief geht es auch Liebe, oder vielmehr: um ein Begriffspaar, nämlich Furcht und Liebe, Liebe und Furcht. Und auch hier dominieren einfache Aussagesätze mit dem Hilfsverbs „ist“. Da heißt es: Gott - ist - Liebe. Und: Furcht - ist - nicht in der Liebe. Da unser Predigttext am Schluss sagt, dass es schwieriger sei, Gott zu lieben als zum Beispiel seinen Bruder, weil Gott nicht sichtbar ist, schlage ich vor, dass wir Gott erstmal außen vor lassen.
Fragen wir uns stattdessen, welche Erfahrungen wir mit der Liebe (und auch mit der Furcht) haben. Was ist Liebe? Und stimmt es, dass es in der Liebe keine Furcht gibt? Unsere Erfahrung bestätigt das nicht unbedingt, oder?
Kommt darauf an, von welcher Liebe wir reden. Da gibt es die Liebe von kleinen Kindern zu ihrer Mutter, zum Vater oder den Großeltern. Dass sich diese Liebe einstellt, steht kaum infrage. Sie wirkt, als wäre sie selbstverständlich. Umso schlimmer ist es, wenn sie erschüttert wird; in der Liebe drückt sich ja auch Vertrauen aus. Und es ist oft verheerend, wenn die Liebe eines Kindes, sein unbedingtes Vertrauen, auf ein Verhalten trifft, dass dieses Vertrauen nicht rechtfertigt. Von Missbrauchsfällen und solchen Dingen will ich gar nicht reden. Schon, wenn ein Kind das Gefühl hat, die Eltern könnten ihm ihre Liebe entziehen, wenn es den Erwartungen nicht entspricht, etwas Verbotenes getan hat, keine guten Schulnoten nach Hause bringt, ist eben doch Furcht in der Liebe. Manche Kinder beobachten sehr genau, ob nicht die Schwester oder der Bruder mehr Liebe empfängt als sie selbst. Und auch, wo das vielleicht gar nicht der Fall ist, kann es den sicheren Halt unter den Füßen kosten.
Und was die Liebe zwischen zwei Menschen betrifft, in der das Begehren eine Rolle spielt – da wissen wir alle, dass da ein ganzer Strauß von Ängsten eine Rolle spielen kann. Kann ich den Partner halten? Verlässt er mich? Was hat es zu bedeuten, dass er abends jetzt immer Termine hat? In meinen Jugendtagen gab es ein Lied mit dem Titel: Love is a battlefield – Liebe ist ein Schlachtfeld. Und dass man sich auf diesem Schlachtfeld Wunden zuziehen kann, die nicht minder schmerzen als die auf den realen Schlachtfeldern – auch das wissen wir.
Furcht ist nicht in der Liebe?
Wie kommt man auf eine solche Behauptung? Wie ist der unbekannte Verfasser des ersten Johannesbriefes darauf gekommen? Nun, was da beschrieben wird, ist eine Art Gegenentwurf. Der 1. Johannesbrief redet anfangs gar nicht von diesem vermischten Leben, das uns umgibt, sondern von Gott. Gott ist Licht, sagt er, und in ihm ist keine Finsternis. Wir mögen Licht und Schatten sein, aber Gott ist Licht. Und daran – so behauptet der Autor – können wir Anteil haben, und zwar ganz und gar:
Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Weil er aber weiß, dass die beobachtbare Wirklichkeit das nicht unbedingt abbildet, fügt er hinzu: Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein.
Ein Gegenentwurf, der in gewisser Weise schon Wirklichkeit ist, weil Gott in der Welt ist und für uns da ist; und der doch erst noch Wirklichkeit werden muss: Es ist noch nicht offenbar, was wir sein werden.
Liebe Gemeinde, Gott als Licht und als Liebe zu beschreiben, mag in unseren Ohren vertraut klingen. Aber selbstverständlich ist es nicht. Ebenso gut könnte es ja heißen: Gott ist ein König. Oder: Gott ist ein Richter. Oder: Er ist mächtig und groß. Aber dann würde Gott als ein Gegenüber zu uns beschrieben. Dort ist er, und hier sind wir. Der Verfasser des ersten Johannesbriefes will aber gerade sagen: Da, wo Gott ist, betrifft das auch uns. Da sind wir bereits nicht mehr die, die wir waren.
Und nun macht es doch Sinn, auf die Wirklichkeit um uns her zu schauen. Denn wenn da, wo Gott ist, Liebe ist, dann gilt auch umgekehrt: Da wo Liebe ist … da ist Gott nicht weit. Allerdings müssen wir uns dann von diesem banalen und inflationären Gebrauch des Wortes Liebe verabschieden. Ein bisschen lieb sein, reicht nicht.
Joghurt reicht nicht. Sondern: Wo Eltern ein Kind lieben, wirklich lieben, kommt der Entzug ihrer Liebe nicht in Betracht. Auch dann nicht, wenn es etwas Dummes gemacht hat, oder wenn es den Hoffnungen und Erwartungen nicht entspricht. Liebe kennt solche Vorbehalte nicht, denn sie ist nicht Licht und Finsternis, sondern Licht. Eine Liebe, die dosiert und vorenthalten werden kann, ist keine Liebe.
Wo ein Mensch einen anderen Menschen liebt, mögen dessen Vorzüge diese Liebe einmal gestiftet haben. Aber wenn dann wirklich Liebe daraus geworden ist, kann sie nicht um den Liebenden kreisen, sondern um den Geliebten. Eine Liebe, die nicht mehr ist als etwas, das mir zum Vorteil gereicht, ist keine Liebe.
Liebe hat etwas Göttliches an sich. Es gibt sicher nicht nur diese Möglichkeit von Gott zu reden, die der erste Johannesbrief wählt. Da sind auch andere Beschreibung von Gott, die ihr Recht haben, zum Beispiel, Gott als Schöpfer zu bezeichnen. Aber ich glaube, dass die Art des 1. Johannesbriefes, von Gott zu reden, seinem Wesen und seinen Absichten schon sehr nahekommt.
Das mag noch ein wenig deutlicher werden, wenn wir uns noch einmal dem anderen Wort aus diesem Begriffspaar – Liebe und Furcht – zuwenden, also der Furcht. Denn so sinnvoll so etwas wie Angst und Furcht in einer Welt ist, die Gefahren birgt, weil sie uns vor diesen Gefahren warnen, so sehr gilt doch, dass Angst und Furcht auch etwas Dämonisches haben können. Das ist dann der Fall, wenn die Furcht sich von ihrem konkreten Anlass löst und gewissermaßen zur Angst vor dem Leben wird.
Liebe schafft Vertrauen. Und auf beides (Liebe und Vertrauen) können wir nicht verzichten. Wo dieses Fundament fehlt, wird es schwierig. Deshalb ist davon in den biblischen Texten so viel die Rede. Das ist so in der Geschichte vom sinkenden Petrus so, der über das Wasser zu gehen versucht. In dem Moment, in dem er Angst bekommt, geht der unter. Was uns trägt, ist der Glaube, diesem Leben trauen zu können.
Wenn Gott seine Boten sendet, die Engel, dann ist das erste, was die sagen, oft dieser kurze Satz: Fürchte dich nicht. Denn der Engel kündet ja von Gott; und Gott ist die Liebe; und Furcht ist nicht in der Liebe, nicht in der Liebe, die Gott meint.
Selbst dort, wo von Gott als dem Schöpfer erzählt wird, ist der Fokus der Erzählung eigentlich der gleiche. Denn bevor Gott die Welt ins Werk setzt, ist da das große Tohuwabohu, ein Chaos, das große Durcheinander. Und es ist finster in dieser undurchdringlichen Tiefe.
Was macht Gott also, gemäß dem Wesen, das ihn auszeichnet? Er macht Licht. Das heißt zugleich: Er macht etwas, das die Angst nimmt. Aus dem lebensfeindlichen, finsteren Tohuwabohu wird die Welt, damit wir einen Ort haben, an dem wir leben können. Das geht nicht im Dunkel. Das geht nicht in einem unstrukturierten Chaos. Das geht nicht, wo Angst und Furcht zu Hause sind.
Liebe Gemeinde, den Schluss unseres Predigttextes kann man leicht missverstehen. Dort heißt es: Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Und dann kommt die Passage, in der es um die Bruderliebe geht, die Liebe zu den Mitmenschen, die wie Brüder und Schwestern sind: Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hast seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.
Es geht hier nicht um einen moralischen Appell. Sondern es geht um die reale Erfahrung, dass dort, wo Menschen Liebe empfangen, sie auch in der Lage sind, Liebe zu geben. Das ist fast automatisch so. Die Erfahrung, geliebt zu werden, verleiht diese Kraft, die es möglich macht, die Angst um sich selbst zu verlieren.
Wer Liebe empfängt, kommt über sich selbst hinaus. Entsprechend gilt umgekehrt: Wo Menschen über sich hinauskommen, tun sie das in der Kraft der Liebe, die sie in sich tragen. Und dort ist Gott gegenwärtig.
Amen
Martha und Maria - Lukas 10, 38 - 42
Liebe Gemeinde, im Internet habe ich einen wunderbaren Ausschnitt aus einer Fernsehsendung aus den siebziger Jahren gefunden, 1977 vermutlich. Die Bilder ein bisschen unscharf, die Farben ein bisschen seltsam, wie bei den alten Farbfotos im Familienalbum. Eine Unterhaltungssendung, eine Show; aber ebenso, wie man das damals machte. Der Ort ist ein großes Restaurant oder ein Saal; Menschen sitzen an Tischen und zwischen den Tischen treten Künstler und Künstlerinnen auf, in diesem Fall eine Sängerin. Am Tisch vorn im Bild ist Helmut Schmidt zu erkennen, der an seiner Schnupftabakdose nestelt. Die auftretende Sängerin ist Johanna von Koczian, die in späteren Jahren eher als Schauspielerin unterwegs war. Sie beugt sich ein wenig zum Bundeskanzler herunter, um ihm die Zeilen ihres Liedes in besonderer Weise nahezubringen. Manche ahnen vielleicht schon, Welches Lied das war: Das bisschen Haushalt.
Das bisschen Haushalt macht sich von allein,
 sagt mein Mann.
 Das bisschen Haushalt kann so schlimm nicht sein,
 sagt mein Mann
 Wie eine Frau sich überhaupt beklagen kann,
 ist unbegreiflich,
 sagt mein Mann.
Der Kanzler verzieht keine Miene. So geht die Sängerin weiter durch die Reihen und singt:
Das bisschen Kochen ist doch halb so wild,
 sagt mein Mann.
 Was für den Abwasch ganz genauso gilt,
 sagt mein Mann
 Wie eine Frau von heut′ darüber stöhnen kann, ist ihm ein Rätsel,
 sagt mein Mann.
 Und was mein Mann sagt, stimmt haargenau.
 Ich muss das wissen, ich bin ja seine Frau.
Das Lied kam mir in den Sinn beim Nachdenken über den heutigen Predigttext, die Geschichte von Maria und Martha. Die Geschichte erzählt ja nicht, was Martha genau tut. Es heißt nur: Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und da kann man ja kaum anders, als zu denken, dass sie in der Küche etwas vorbereitet, um den Gast (und damit auch ihre Schwester) bewirten zu können. Möglicherweise ist der Gast spontan bei den Schwestern eingekehrt. Es handelt sich ja um Jesus, zu dem es kaum passt, dass er eine förmliche Einladung angenommen hat. Er kommt einfach vorbei, stelle ich mir vor, worauf Martha in die Küche eilt und froh darüber ist, dass ihre Schwester Maria sich um den Gast kümmert, damit sie etwas zu essen bereiten kann; vermutlich viel zu aufwendig für diesen Zweck, aber was soll Jesus sonst von ihr denken.
Dann aber kippt in ihr die Stimmung, als sie aus der Küche in den Wohnraum schaut. Hat sich ihre Schwester doch tatsächlich zu den Füßen Jesu gesetzt und hört ihm leicht verzückt – so nimmt sie es wahr – zu. Das findet Martha nun doch ziemlich empörend.
Liebe Gemeinde, man muss beim Psychologisieren von biblischen Geschichten vorsichtig sein. Nicht jede Geschichte eignet sich dazu. Diese aber vielleicht schon. Denn was Maria sich einfach nimmt, ist die Aufmerksamkeit und Nähe des Rabbis, von dem zuletzt so viel erzählt wurde. Und das will Martha vielleicht auch. Aber sie geht einen ebenso typischen wie untauglichen Umweg. „Da will ich ihm doch erstmal eine Freude machen, indem ich ihm was Leckeres zu essen und zu trinken bringe.“ Währenddessen ereignet sich das, was sie eigentlich will, da draußen zwischen Jesus und ihrer Schwester Maria. Und schon beschwert Martha sich: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!
Ich bin kein Psychologe. Aber vermutlich würden die von vermeintlichem Altruismus sprechen. Also von dieser Haltung, die als Opferbereitschaft, als Selbstlosigkeit daherkommt, hinter der aber in Wahrheit ein unerfülltes Bedürfnis steckt. Ich will deine Nähe. Also backe ich ein Kuchen. Sodann finde ich es doof, dass ich damit in der Küche lande und Nähe gar nicht entstehen kann.
Daraus kann eine passiv aggressive Störung entstehen. Ich warte darauf, dass ich bekomme, was ich mir wünsche; ich artikuliere aber gar nicht, was ich mir wünsche. Sondern was ich äußere, sind Vorwürfe. „Da hat man nun gearbeitet, dass einem das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzt!“
Vielleicht kommt Ihnen das bekannt vor. Walter Kempowski hat das in dem Roman Tadellöser und Wolff erinnert: Einer der Aussprüche seiner Mutter Grete: „Da tut man und macht man, bis einem das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzt!“ ‚Warum nimmt keiner wahr, was ich tue?‘ Aber in Wahrheit ist die Klage noch eine andere: ‚Warum bekomme ich nicht, was ich mir eigentlich wünsche?‘
Liebe Gemeinde, vielleicht helfen diese Beobachtungen ein wenig, um besser zu verstehen, warum Jesus so reagiert, wie er das tut. Martha, Martha du hast viel Sorge und Mühe. Aber eines ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.
Was ist denn das gute Teil? Wollte man theologisch akkurat antworten, müsste man wohl sagen: Das ist das Evangelium. Denn es kann doch nicht wirklich darum gehen, dass Maria sich zu den Füßen Jesu setzt, oder? Es kann doch nur darum gehen, dass sie seine Botschaft hört!
Was aber ist diese Botschaft? Das ist die Botschaft von Gottes Menschenfreundlichkeit. Dass er uns annimmt. Dass wir uns auf seine Liebe verlassen können. Und dass er keinen Käsekuchen als Gegenleistung erwartet, oder gar als Voraussetzung. Gott liebt, wie Eltern ihre Kinder lieben oder doch zumindest lieben sollten. Nicht in Abhängigkeit von deren Wohlverhalten, sondern grund- und voraussetzungslos. Das einzige, was ich tun muss, damit Gottes Liebe an mir wirksam wird, ist ihr Glauben zu schenken. Und übrigens: Warum sollte sich das Gefühl, geliebt zu sein, sich nicht auch in Nähe ausdrücken. Da, wo Maria sitzt, zu den Füßen Jesu, gelingt ihr das offenbar am besten. Und deshalb sitzt sie da richtig.
Wenn es um die Liebe geht, liebe Gemeinde, dann reden wir von einem Wort, in dem sich viele Facetten spiegeln. Liebe ist vor allem eins, nämlich vielschichtig. Es gibt begehrende Liebe ebenso wie schenkende Liebe. In der Aufzählung des Apostels Paulus im sogenannte Hohenlied der Liebe geht es vorrangig um die schenkende Liebe. Wer liebt, dem wachsen auch Aufgaben zu. Es ist ja nicht immer leicht, langmütig zu sein. (Die Liebe ist langmütig und freundlich, sagt Paulus.) Wer Kinder im Prozess ihres Heranwachsens begleitet hat oder wer einen Familienangehörigen, einen nahen Menschen, in Krankheit oder Demenz begleitet hat, weiß, dass es vor allem eines dazu braucht: eben Langmut. Geduld. Eine innere Freundlichkeit. Oder um es pointierter zu sagen: Man braucht Liebe.
Aber nun ist es ja so: Bevor die Liebe eine Aufgabe sein kann, die ich zu tragen vermag, die ich tragen will, muss sie zunächst mal Gabe sein. Sie ist immer erst ein Geschenk – und dann etwas, was ich weitergebe. Denn nur so gelingt es, dass die Liebe nicht eifert, nicht Mutwillen treibt, sich nicht aufbläht, nicht um sich selber kreist, nicht Enttäuschungen aufrechnet.
Wo die Liebe fehlt, da kommen die Vorwürfe. „Da tut man und macht man, dass einem das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzt – und keiner dankt es einem!“ Nichts gegen Käsekuchen, liebe Gemeinde. Aber wo der Käsekuchen für eine unerfüllte und nicht einmal geäußerte Sehnsucht steht, schmeckt er nicht.
Liebe Gemeinde, während wir hier über solche Dinge nachdenken, die doch ganz offensichtlich den menschlichen Nahbereich betreffen, ist die Welt um uns her Unordnung, sehr in Unordnung. Gibt es denn Sinn, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, während zwei Präsidenten, der der USA und der der Ukraine, sich in aller Öffentlichkeit, vor laufenden Kameras, anbrüllen – der eine mehr als der andere? Vermutlich wird das Menschenleben kosten. Keine Einigung, also keine Perspektive für den Frieden.
Haben wir da das Recht, uns mit scheinbar privaten Dingen zu befassen, mit der Eifersucht der einen Schwester auf die andere, oder mit der Eifersucht, die in unserem privaten Leben aufkommt, wo wir uns nicht hinreichend wahrgenommen fühlen? Ich denke, wir haben das Recht. Es gibt sogar guten Grund dazu. Denn was wir der gerade auf der politischen Weltbühne sehen, vermehrt sehen, ist die wachsende Verengung der Herzen. „Was ist mit mir!“ „Ich zuerst!“ Wir zuerst – Amerika first. Und irgendwann ziehen die anderen nach. „Was gehen mich diese anderen an?“ Abgrenzung. Empathielosigkeit. Am Ende ist alles ein Deal, ein Geschäft, Leistung nur für Gegenleistung. Und wenn der Deal nicht klappt, nennt man schon mal die Opfer, denen eigentlich Mitgefühl gebührt, Täter.
Demgegenüber, auch demgegenüber, gilt es, das bessere Teil zu wählen. Das ist das, was wir einander geben können, weil Gott es uns gibt: Menschenfreundlichkeit, Nähe, Einfühlung, Anteilnahme, Liebe.
Die Schlussstrophe von Johanna von Koczians Lied geht übrigens, nachdem sie über das Bügeln und die Gartenarbeit gesungen hat, die aus der Sicht ihres Mannes natürlich auch kein Problem sind, folgendermaßen:
Er muss zur Firma geh'n, tagein tagaus,
 sagt mein Mann
 Die Frau Gemahlin ruht sich aus Zuhaus',
 sagt mein Mann.
 Dass ich auf Knien meinem Schöpfer danken kann, wie gut ich′s habe,
 sagt mein Mann.
Dass ich auf Knien meinem Schöpfer danken kann, wie gut ich′s habe,
 sagt mein Mann.
Nun, wenn man die Ironie weglässt und den Dank an den Schöpfer, ob nun auf Knien oder nicht, auf beide Geschlechter bezieht, dann kehrt vielleicht das zurück, was hier verloren gegangen ist: Einfühlung in den anderen, Großzügigkeit und Liebe. Das gebe Gott.
Amen
Saul und die Musik - 1. Samuel 16, 14 - 23
Wer nicht hören will, muss fühlen. Ich nehme an, liebe Gemeinde: Diesen Satz kennen Sie alle. Bei den Konfirmanden und Konfirmanden bin ich mir nicht so sicher, denn er stammt ja aus einer Zeit, in der es noch diese, sagen wir mal: robuste Pädagogik gab: „Wenn du nicht hörst … Wenn du nicht gehorchst, dann setzt es was.“ In meinen Kindertagen gab es das durchaus noch.
Ich erinnere mich an die beiden Jungen aus unserer Nachbarschaft: Wenn die etwas ausgefressen hatten, sagte ihre Mutter in drohendem Ton: „Wartet, bis euer Vater nach Hause kommt.“ Und wenn der nach Hause kam, musste er seine Söhne verhauen, weil nun mal die Devise galt: Wer nicht hören will, muss fühlen.
Selbst in der Schule gab es noch Reste davon. An einen Grundschullehrer erinnere ich mich, der dann später der Prügelpraxis abgeschworen haben soll. Der verteilte noch Backpfeifen – aber das traf nur die Kinder aus dem Coselweg. Das war so eine Art Ghetto für die sozial Schwachen.
Wie gut, dass das vorbei ist. Es hätte schon viel früher vorbei sein können, denn unser heutiger Predigttext aus dem ersten Buch Samuel, vertritt vergleichsweise moderne Positionen, die eine andere Praxis nahelegen. Aber dazu später mehr.
Wir haben die Geschichte gehört über König Saul, dem es nicht gut geht. Ein böser Geist hat von ihm Besitz ergriffen. Dass ausdrücklich erwähnt wird, dass dieser böse Geist von Gott kommt, ist kein Versehen. Liest man nämlich die Geschichte von König Saul in voller Länge, erscheint ein ziemlich problematisches Porträt. Der Mann war hochgradig jähzornig, offenbar innerlich nicht stabil, er neigte zur Gewalt. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass er der erste König über Israel war, während sie zuvor als Stämmeverbund gelebt haben, mit sogenannten Richtern an der Spitze.
Nun entstand ein Königtum, das Geld und Macht für sich beanspruchte, Kriege in relativ großem Maßstab führte und keineswegs von allen wohlgelitten war. Als Sauls Verhalten immer problematischer wurde, entzog Gott durch seinen Propheten Samuel dem König die Gunst. Der Herr hat das Königtum Israels heute von dir gerissen und einem anderen gegeben, der besser ist als du, sagt der Prophet Samuel zu Saul. Und den stürzt das in eine Krise. Dieser böse Geist: das ist – modern gesprochen – eine Depression. Er weiß einfach nicht weiter. Und hier beginnt nun unsere Erzählung, der Predigttext aus Kapitel 16 des 1. Samuel-Buches.
Weil Saul so gar nicht weiterweiß, sind es seine Knechte, die ihm den entscheidenden Ratschlag geben. Sie sagen: Musik könnte helfen: vielleicht jemand, der Harfe spielt – Musiktherapie. Dieses kleine Detail, liebe Gemeinde, dass die Knechte den Anstoß geben, finde ich wichtig. Wenn man in ein solches Loch gefallen ist … eine Depression, einen Burn-out, dann bedarf es der Hilfe von außen.
Aber es bedarf auch der Entscheidung des Betroffenen, sich helfen zu lassen. Saul sagt, vermutlich mit leicht monotoner Stimme: Seht nach einem Mann, der des Saitenspiels kundig ist, und bringt ihn zu mir. Die Wahl fällt auf den Hirtenjungen David, der beim Schafehüten – warum auch immer – nicht Flöte spielt, wie man vielleicht erwarten könnte, sondern eine Art Harfe, vermutlich eine kleine, transportable. Wissenschaftler wollen herausgefunden haben, es sei eine Winkelharfe für die Armbeuge gewesen.
Dass hier die Karriere des späteren Königs David beginnt, ist an dieser Stelle gar nicht der springende Punkt. Saul gewinnt David lieb macht ihn zu seinem Waffenträger, und später wird er dann das Königsamt von Saul übernehmen. Aber das weiß Saul hier zum Glück noch nicht. Und so steht jetzt die Wirkung der Musik im Vordergrund.
Machen wir uns klar, liebe Gemeinde: Eine Depression ist eine Störung des Gefühlslebens. Sie ist mehr als ein Stimmungstief. Häufig sagen wir umgangssprachlich: „Ich bin so deprimiert heute.“ Das liegt dann aber oft daran, dass irgendetwas nicht geklappt hat, jemand unfreundlich zu mir war, kurz: dass es einen erkennbaren Grund für die schlechte Stimmung gibt. Bei einer Depression löst sich das Gefühlsleben vom konkreten Anlass. Ich habe in einem Fachartikel so eine beispielhafte Beschreibung eines (oder einer) Betroffenen gefunden: „Mir geht’s schlecht. Seit einigen Wochen hab ich „schlechte Laune“, wie es mein Umfeld nennt. Ich hab keine Lust auf irgendetwas. Gestern z. B. wollte ich mit Freunden tanzen gehen, was ich sonst so gerne tue. Um halb zwölf hab ich dann abgesagt und bin ins Bett gegangen. Ich habe vor schlechten Gedanken ständig Kopfschmerzen und würde deswegen am liebsten die ganze Zeit nur schlafen. Aber ich kann nicht schlafen. Ich schlafe über den Tag verteilt immer wieder ein bis zwei Stunden, wache dann auf, habe Kopfschmerzen, schlucke zwei Aspirin und hänge dann rum.“
Man kann nicht wirklich sagen, dass jemand, der oder die depressiv ist, nicht fühlen kann. Diese furchtbar gedrückte Stimmung ist ja ein starkes Gefühl. Aber in der Depression werden die Dinge, die früher einmal wichtig waren, für die man sich ins Zeug gelegt hat, für die man gebrannt hat innerlich, plötzlich unwichtig. Die Welt da draußen dringt nicht mehr zu mir durch. Und so gesehen stimmt es eben doch, dass Menschen, die depressiv sind, nicht mehr fühlen können.
Ob Psychologen den Vorschlag der Knechte Sauls, was nun zu tun sei, für ausreichend erachten würden, weiß ich nicht – vermutlich nicht. Aber der Gedanke von den Knechten ist ja ganz offensichtlich: Wir müssen an die Gefühle von dem Mann herankommen! Er muss wieder an seine Gefühle herankommen können! Und dafür ist Musik ein guter Weg.
Der eingangs zitierte Satz Wer nicht hören will, muss fühlen. wird hier also umgekehrt: Wer fühlen will, muss hören – nämlich Musik. So gesehen waren die damals, vor 3000 Jahren, klüger als manche Eltern und Lehrer meiner Jugendzeit. Das Fehlverhalten, das die handgreiflich bestraften, hatte zwar nichts mit Depressionen zu tun, aber manchmal wohl doch mit dem Bedürfnis, auf sich aufmerksam zu machen. Also mit Gefühlen, die zu verstehen und wahrzunehmen der bessere Weg gewesen wäre.
Wer fühlen will, muss hören. Meine ganze Jugendzeit – und sicher nicht nur meine – war von Musik begleitet – obwohl ich kein besonders musikalischer Mensch bin. Das wird Ihnen ähnlich gegangen sein, und den Konfis heute geht es sicher auch so. Und wenn ich im Radio die Musik von damals höre … (ich stelle mit Schaudern fest, dass ich da inzwischen zu NDR I durchgereicht worden bin – das haben wir früher Radio Sterbehilfe genannt) dann legt das manche Gefühle von damals wieder frei: von der ersten Liebe …und vom Liebeskummer, der viel länger dauerte, aber auch von der nächtlichen Autofahrt nach Stockholm mit Freunden, als wir 18 waren. Oder ich weiß plötzlich wieder ganz genau, wie sich das anfühlte, wenn wir abends in dieser dunklen Kneipe namens Golem saßen und in langen, ziemlich vergrübelten Gesprächen herauszufinden versuchten, was es mit der Welt und unserem Leben auf sich hat, während im Hintergrund mindestens einmal pro Abend viel zu laut „The dark side of the moon“ von Pink Floyd gespielt wurde.
Musik kann nicht nur bestimmte Stimmungen und Gefühle wachrufen oder unterstützen, sie kann sie sogar zurückholen. Vielleicht liegt darin schon ein Stück therapeutisches Potenzial: dass Musik, wenn man umklammert ist von düsteren Gefühlen, gefangen in einer Depression, eine andere Stimmung erzeugen kann.
David, dem jüngsten der Söhne Isais, muss das gelungen sein. Denn das Buch Samuel berichtet, dass der gemütskranke Saul David sehr liebgewann. Und das heißt ja: der, der in gewisser Weise nicht mehr fühlen konnte, findet zu seinen Gefühlen zurück – durch Musik.
Wer fühlen will, muss hören. Und dennoch ist damit nicht alles gesagt, liebe Gemeinde, denn dass durch Musik alles gut wird, stimmt leider nicht. Das Sprichwort sagt zwar „Böse Menschen kennen keine Lieder.“ – aber das ist nicht wahr. Musik kann auch problematische Gefühle erzeugen. Als 1967 ausgerechnet in der ordnungsliebenden Schweiz, in Zürich, die Rolling Stones auftraten und im Anschluss sämtliches Mobiliar zertrümmert war, stand für die Generation meiner Eltern fest, dass diese Musik die übelsten Seiten im Menschen wecke. Ich war da gerade mal acht Jahre alt und interessierte mich noch nicht für die Stones, aber an die Empörung meiner Eltern kann ich mich erinnern. Dabei trug diese Form der Enthemmung sicher auch noch ein Moment der Befreiung in sich – auch wenn man sich fragen kann, was die Stühle den Konzertbesuchern eigentlich getan hatten.
Ich erzähle das nur, weil mit Musik auch destruktive Gefühle einhergehen können. Sie kann sozusagen Ventile öffnen. Nicht von ungefähr ist über die Jahrhunderte hinweg auf den Schlachtfeldern immer wieder Musik eingesetzt worden (Trommler, Fanfaren) – sie machte die Soldaten mutiger, entschlossener. Und auch hochwertige Musik kann nicht davon freigesprochen werden, dass sie missbräuchlich eingesetzt werden und höchst problematische Gefühle befördern kann. Ein Kabarettist hat in Anspielung darauf, dass Adolf Hitler ein Liebhaber der Musik Richard Wagners war, gespottet: Wenn man eine halbe Stunde Wagner gehört habe, überkomme einen das Bedürfnis, Polen zu überfallen.
Nun, das geht hoffentlich nicht jedem so. Aber es ist doch deutlich, dass Musik nicht in jedem Fall als Therapeutikum wirkt, wenn man denn voraussetzt, dass Therapien eine heilende Wirkung haben sollten. Und deshalb gilt noch mal auf eine andere Art und Weise:
Wer fühlen will, muss hören. Das ist schon dann so, wenn man in einem Chor oder auch in diesem Gottesdienst miteinander singen will. Ohne zu hören, was die anderen singen, geht es nicht – wird der Gesang nicht schön und harmonisch. Auf andere hören ist die Voraussetzung, dass etwas miteinander geht. Und wo etwas miteinander geht, während es zuvor möglicherweise nicht ging, ist ja bereits etwas Heilendes oder doch zumindest etwas Gutes, Hilfreiches geschehen.
Unser Bibeltext geht darüber aber noch hinaus. Er preist die Musik als heilendes Mittel für den kranken Saul. Dem aber hatte Gott als Reaktion auf dessen Jähzorn und die Gewaltausbrüche den bösen Geist gesandt, der dann in Form einer Depression von ihm Besitz ergreift. Jetzt nimmt er durch die Musik den bösen Geist von ihm. Das bedeutet doch, dass im Hören auf die Musik auch ein Hören auf Gott mitschwingt. Wer in einem guten Sinne fühlen will, muss auf das Richtige hören. Musik muss nicht, aber sie kann etwas von Gott mitteilen – leichter und eingängiger, als dies mit Worten möglich ist.
Häufig wird zwischen geistlicher und weltlicher Musik unterschieden, was, soweit ich das beurteilen kann, nicht zuletzt mit den Texten zu tun hat, die da vertont werden. Ich halte mal dagegen und sage: Die Musik, die in Menschen etwas Helles, Lebensbejahendes zum Klingen bringt, ist geistliche Musik. Vielleicht hat David dem Saul nur eine einfache Hirtenmelodie vorgespielt. Aber für Saul hatte diese Musik etwas Heilendes, etwas von Gott Kommendes, etwas Göttliches.
Möge sie das immer wieder auch für uns haben, nicht nur am Sonntag Kantate.
Amen
Freiheit - wer bist du? - Exodus 3, 1 - 15
Liebe Gemeinde, in grauer Vorzeit war ich einmal ein Schulpfarrer. Da gehörte zum Themenkanon – ich weiß nicht mehr genau, in welcher Klassenstufe – die Bibel; nicht eine einzelne Geschichte oder ein einzelner Text aus der Bibel, sondern die Frage: Was ist das eigentlich für ein Buch?
Ich habe dazu meine Schüler und Schülerinnen aufschreiben lassen, um was ist denn ihrer Meinung nach in der Bibel gehe. Dann schrieben die: um Glauben, um Gott, um die Sünde, um Vergebung, ums Beten, um die Arche Noah und die Schöpfung, um Maria und Josef und diesen Typen, der Jesus gekreuzigt hat. Manchmal waren auch noch andere Dinge mit dabei, aber auf eines konnte man sich verlassen: Niemand kam auf die Idee, dass es in der Bibel um Freiheit gehen könnte.
Aber genau darum geht es. Die grundlegende, identitätsstiftende Erzählung des Volkes Israel ist die Erzählung vom Auszug aus der Knechtschaft in Ägypten – und dem ebenso mühe- wie verheißungsvollen Weg, der in die Freiheit führen soll. Der Weg, der in eine gute, unbeschwerte Zukunft führt und die Bedrückung, die Gefangenschaft, das Unrecht und das Leid hinter sich lässt – das galt und gilt den Israeliten bzw. den Juden bis heute als Ursprungserfahrung.
Daran haben wir als Christen und Christinnen Anteil.
Diese Erzählung vom Aufbruch in die Freiheit ist im Kern älter als die Erzählung von der Schöpfung (zumindest älter als die biblische Variante davon), und älter auch als diese üppige Familiensaga, die mit Adam und Eva beginnt und dann von den Menschen um Abraham, Isaak und Jakob berichtet. Denn diese Geschichten schließen nur eine Lücke, indem sie die Antwort geben auf die Frage: Was war denn vor dem Auszug aus der Knechtschaft in Ägypten, bevor wir ins gelobte Land kamen?
Das Buch Exodus, zu Deutsch: Der Auszug oder Der Weg heraus, das zweite Buch Mose also, ist der Kern mindestens des ersten Teils der Bibel, den wir das Alte Testament nennen. Und darin gibt es wiederum einen Schlüsseltext, sozusagen den Kern im Kern. Das ist die Geschichte, die Sie vorhin gehört haben. Man kann sie überschreiben mit Die Berufung des Mose oder die Selbstoffenbarung Gottes.
Denn das hängt aufs engste zusammen. Die Beauftragung an Moses, das Seine zu tun, damit es nicht bleibt bei Abhängigkeit, Bedrückung und Leid, beschreibt zugleich das Wesen Gottes.
Bemerkenswert ist ja bereits, wen Gott sich da aussucht als Initiator des Aufbruchs in die Freiheit. Das ist ein Delinquent. Denn obgleich Moses am Hof des Pharao aufgewachsen ist, quasi als Königssohn, weiß er doch, dass er zu den Hebräern gehört, die von den Ägyptern unterdrückt werden, nicht zuletzt deshalb, weil die Hebräer den Ägyptern Angst machen: Es gebe zu viele von diesen Fremden. Als Moses sieht, wie ein ägyptischer Aufseher einen seiner Landsleute schlägt, überkommt ihn der Zorn und er tötet den Aufseher. Daraufhin muss er in die Wüste fliehen, nach Midian, wo er heiratet und hofft, unbehelligt zu bleiben.
Und dort trägt es sich nun zu: ein Dornbusch brennt – nichts Besonderes. Aber dieser Busch verbrennt nicht. Da ist etwas im Busch. Eine Stimme, die ruft: Moses. Moses. Wer am vergangenen Sonntag Karin Liebl zugehört hat, weiß bereits, dass die Bibel diesen Namen deutet: Der Name Moses heißt übersetzt Der Herausgezogene. Denn die Tochter des Pharaos zog seinerzeit ein Kästchen aus dem Schilf am Rande des Nils, in dem das Kind ausgesetzt worden war. Und nun ruft Gott ihn bei diesem Namen. Ins Deutsche übertragen: He, du, Herausgezogener.
Und dann noch einmal: Herausgezogener, höre: „Zieh mein Volk heraus – aus dem Leid, das sie umgibt und aus der Unfreiheit.“
Moses begreift wohl – aber er will nicht. Kein Wunder. Heißt dieser Auftrag doch, dass er zurück muss an den Hof des Pharaos. Nicht nur, dass er dort Gefahr läuft, verhaftet zu werden. Nein, auch die Forderung, die Moses überbringen soll, wird dem Pharao nicht gefallen. Denn so sehr auch die Hebräer, diese Fremden, angefeindet werden – man braucht sie doch. Sie sind billige Arbeitskräfte, Gastarbeiter. Also wird der Pharao sie nicht einfach so in ein besseres Leben ziehen lassen.
Deshalb windet sich Moses heraus: Ich? Wieso ich? Wer bin ich denn schon? Gott weiß wohl, wer er ist, nämlich einer, der etwas auf dem Kerbholz hat – und den Gott nun doch zu seinem Werkzeug macht. Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen. Dabei soll es nicht bleiben. Du musst zum Pharao gehen.
Nachdem das mit der vorgetäuschten Bescheidenheit (wer bin ich denn schon?) nicht geklappt hat, versucht Moses, sich auf andere Weise herauszuwinden: Ja, wenn mich meine Landsleute fragen, wer mir diesen reichlich riskanten Auftrag erteilt hat, was soll ich dann sagen? Jetzt fragt Moses nicht mehr Wer bin ich schon?, sondern: Wer bist du? Vielleicht hätte er in seiner Bedrängnis am liebsten gefragt Wer bist du schon? Aber ganz so weit geht der dann doch nicht.
Folgt man der biblischen Chronologie, der dort beschriebenen Abfolge der Ereignisse, hätte Gott sich darauf beschränken können, das zu sagen, was Moses ja eigentlich schon wissen muss, und das Volk, aus dem er stammt, auch. Ich bin der Gott eurer Vorfahren, der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs. Stattdessen offenbart Gott seinen Namen. Der besteht aus jenen vier hebräischen Buchstaben, vier Konsonanten, die um die Vokale ergänzt den Namen ergeben, den ein frommer Jude nicht ausspricht, aus Ehrfurcht: Jahwe. In diesem Namen steckt ein Anklang an das hebräische Verb hajah, das sein oder auch werden bedeutet. Also kann man auch den Gottesnamen ausdeuten: Ich bin, der ich bin, oder auch: Ich werde sein, der ich sein werde.
Das ist Gottes Antwort auf Moses Frage: Wer bist du? Das klingt vielleicht ein bisschen patzig, ist aber wohl nicht so gemeint. Sondern daran zeigt sich Gottes Wesen. Einerseits lässt es sich nicht festlegen. Auch als der, der vom Himmel herabgestiegen ist, um sich des menschlichen Elends zu erbarmen, hält Gott sich seine eigene Zukunft offen: Was ich sein werde, wird sich zeigen – es hängt auch von euch ab. Aber was immer ich sein werde, ich werde es für euch sein. Denn darin lege ich mich fest, dass ich euch aus dem Land der Knechtschaft herausführen will.
Das Ziel ist also klar, aber nicht in dem Sinne, dass die Israeliten nicht ihren Beitrag leisten müssten. Dieser eigene Beitrag besteht zunächst einmal darin zu vertrauen. Das ist sozusagen der andere zentrale Inhalt der Bibel: Es geht um Freiheit und um Vertrauen. Und das eine gibt es nicht ohne das andere. Vertrauen braucht die freie Entscheidung. Aber Vertrauen bringt auch Freiheit hervor, denn die Alternative wäre Angst, die unfrei macht.
Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, ob Sie mal so eine förmliche Liebeserklärung empfangen haben. Mondschein, hinknien, eine Rose in der Hand – sowas. Sie werden aber in jedem Fall nicht gefragt haben als Reaktion: „Wer bist du? Und kannst du mir das garantieren?“ Sondern die einzig adäquate Antwort – wenn man denn darauf eingehen möchte – ist natürlich Vertrauen. Und ohne dieses Vertrauen entsteht gar nichts, jedenfalls nichts Gutes. Ich kann nur darauf vertrauen, dass das, was in diesem Moment gilt, in die Zukunft trägt...
Freiheit – wer bist du? So habe ich diesen Gottesdienst für die Sommerpredigtreihe betitelt. Natürlich spielt das an auf Moses herumdrucksende Frage an Gott: Wer bist du denn? Aber wer da eine Anrede an die Freiheit selbst herausgehört hat: „Wer bist du, Freiheit? Was bist du?“, liegt natürlich nicht falsch. Freiheit ist das, was Gott für uns unbedingt will. Freiheit hat aber auch mit Vertrauen zu tun und damit mit Bindung.
Die, die behaupten, frei sei nur, wer auf niemanden Rücksicht nehmen müsse oder es einfach nicht tue – die reden Unsinn. Sicher, es hat auch etwas mit Freiheit zu tun, von etwas frei zu sein. Aber dann stellt sich doch die Frage: Was fange ich mit der Freiheit an? Und dann geht es um die Freiheit zu etwas. Das ist hier der Entschluss, sich auf den Weg zu machen. Am Anfang ist da nur etwas im Busch – in des Ausdrucks doppelter Bedeutung. Entscheidend ist, was daraus wird:
Ein Aufbruch. Aus Abhängigkeit und Angst. Ein Aufbruch in ein gutes, selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Leben. Kein leichter Weg. Aber ein guter Weg. Damit das gelingen kann, offenbart sich Gott: Ich bin, der ich bin. Ich werde sein, der ich sein werde. Ich bin für euch da. Das nimmt die Angst, das schafft das nötige Vertrauen und macht den Aufbruch möglich.
Liebe Gemeinde, ich betone das auch vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen in der Welt. Das sind ja keine guten Entwicklungen. Überall, so scheint es, sind autoritäre Strömungen auf dem Vormarsch. Demokratie, Pluralismus, Toleranz und Freiheit sind in Gefahr. Das ist in Frankreich so, in gewissem Maße in Italien, das droht in den USA und vielleicht auch bei uns in Deutschland. Von Ländern wie der Türkei, dem Iran, Afghanistan, Russland oder China will ich gar nicht reden. Nur in Polen und in England geht es gerade andersrum.
Da sind diese Hoffnungen, man müsse sich nur ein bisschen abschotten und dann werde wieder alles gut, schon enttäuscht worden. Anderswo aber sehnen sich immer mehr Menschen nach dem starken Mann. Zur Not darf es auch eine starke Frau sein. Man will jemanden, der sagt, wo‘s lang geht.
Das ist ein Angst-Syndrom, denke ich. Angst vor einer Welt, die sich immer schneller dreht. Angst davor, den eigenen Platz in dieser Welt zu verlieren, weil sie sich so schnell verändert. Angst vor sozialem Abstieg. Angst, das Gas für die Heizung nicht bezahlen zu können und die Wärmepumpe auch nicht. Angst vor dem Klimawandel und was er uns abverlangen wird. Angst davor, sich einzugestehen, dass er uns etwas abverlangen wird.
Und dann, wenn die Angst groß genug ist und das Vertrauen klein, dann will man zurück an die Fleischtöpfe Ägyptens. Dorthin also, wo man doch immerhin leben kann, wenn auch andere das Sagen haben. Wir wollen regiert werden. Wir wollen eine starke Hand über uns.
Auch das Volk Israel neigte immer wieder zu solchen Impulsen. Aber gefolgt sind sie letztlich einem anderen Impuls. Nämlich jener Stimme, die sie zum Aufbruch ermunterte. Wagt es, habt Vertrauen! Schüttelt die Angst ab! Macht euch auf den Weg, wagt frei zu sein.
Es mag sein, liebe Gemeinde, dass es uns dabei genauso wie den Israeliten damals ergeht; dass wir steinige Wege vor uns haben, dass die Wege lang sein werden. Aber ein hinreichender Grund, die Hoffnung auf das Land der Verheißung aufzugeben, auf jenes Land also, wo Menschen einander achten und die eigene Freiheit nicht über die der anderen stellen … ein hinreichender Grund, diese Hoffnung aufzugeben, ist weder die Länge noch die Schwierigkeit des Weges.
Ich bin, der ich bin und ich werde für euch da sein, sagt Gott. Das heißt auch: Beugt euch nicht unter die Hand derer, die die Unfreiheit wollen. Beugt euch nicht darunter, bloß, weil eure Angst vor einer offenen Zukunft größer ist als die Angst vor den Bedrückern. Habt Vertrauen! Denn Vertrauen ist ein besserer Ratgeber als die Angst.
Amen
Karfreitag - Johannes 19, 16 - 30
Liebe Gemeinde, unter der Überschrift „Was wirklich zählt“ setzt sich die jüngste Ausgabe der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ mit der Osterbotschaft auseinander. Und fügt eine These an, die da lautet: „Die Glaubwürdigkeitskrise der Kirchen lässt sich nicht durch angestrengte Gewissheiten überwinden.“ Gemeint ist die Krise, die durch die Missbrauchsskandale hervorgerufen worden ist, und von der der gleiche Artikel behauptet, es sei die Krise der katholischen Kirche, die auf die evangelische abfärbt. Wir wissen demgegenüber inzwischen durchaus, dass die evangelische Kirche in geringerem Maße betroffen ist, aber so zu tun, als betreffe es sie nicht, kann sie keineswegs.
Ich las diesen Artikel, kurz bevor ich damit anfangen wollte, meine Karfreitagspredigt zu schreiben. Und ich empfand das als Hypothek: „Angestrengte Gewissheiten“ seien zu vermeiden. Aber kann man denn von dem Zentrum des christlichen Glaubens, um das es sich ja an Karfreitag und Ostern geht, jenseits überlieferter Gewissheiten reden? Oder: Wie würde eine unangestrengte Gewissheit klingen?
Bei Karfreitag scheint man – zum Unterschied zu Ostern – noch irgendwie fein raus zu sein. Denn Karfreitag erzählt er von einem Geschehen, das weltlicher kaum sein könnte, nämlich einer Hinrichtung. Und weltliche Dinge sollten ja, anders als die geistlichen oder jenseitigen, klar und gewiss sein – man muss ja nur hinschauen. Soweit für diese Hinrichtung der Römer Pontius Pilatus verantwortlich ist, ist sie aus dem zynischen Gedanken gespeist, dass man besser einen dieser Aufrührer mehr umbringt als einen zu wenig. Soweit es die jüdische Obrigkeit betrifft, ist es wohl eine Mischung aus Konkurrenzangst und fehlgeleitetem religiösem Eifer. All das ist überaus weltlich und profan – auch der religiöse Eifer.
Mit Ostern verhält es sich anders. Denn hier wird etwas erzählt, was – gemessen an der menschlichen Erfahrung – gar nicht sein kann: Da war einer tot – und wird wieder lebendig. Allerdings: So scheint es nur zu sein. Denn bei näherem Hinsehen handelt die eine Geschichte wie die andere vom christlichen Glauben. Das ist schon deshalb so, weil diese Geschichten in den Evangelien stehen. Und die sind nun einmal keine Tatsachenberichte, sondern Glaubenszeugnisse – aufgeschrieben lange nach den berichteten Ereignissen, nicht, um zu erzählen, was damals war; sondern um auszudrücken, was das Geschehene, Erlebte, Empfundene, denen bedeutete, die die Evangelien schrieben oder lasen.
Um es am Beispiel zu sagen: Es geht nicht darum, dass Jesus gekreuzigt wurde. Viele wurden gekreuzigt. Sondern darum, dass er sein Kreuz anstelle derer trug, die es eher verdient hätten, bestraft zu werden, oder besser: dass er es an unserer statt trug.
Es geht um etwas, dass ich schlechterdings nur glauben kann: nämlich dass Gott uns hier etwas von den Schultern nimmt, was uns sonst niederdrücken würde. Entsprechend geht es auch in der Ostergeschichte nicht darum, dass da einer aufersteht. Sondern darum, dass in beidem, der freiwilligen Hinnahme von Leid und Kreuz (Karfreitag), wie auch in der Auferstehung oder Auferweckung (Ostern), Gott sich auf unsere Seite schlägt, die Seite der Menschen, wieviel Schuld wir auch tragen mögen.
Ich weiß nicht, liebe Gemeinde, ob das für mich so ohne Weiteres „Gewissheiten“ sind. Man ringt ja doch immer wieder mit diesen Geschichten. Aber auf was anderes als auf das, was die Evangelisten uns überliefern, könnten wir uns denn berufen? Auch Karfreitag muss ich glauben. Nicht, dass Jesus gekreuzigt wurde. Da sind sich die Historiker eigentlich sicher. Aber an das, was Karfreitag für mich, für uns, für den christlichen Glauben bedeutet – daran muss man glauben.
Bei keinem der Evangelisten wird das so deutlich wie bei Johannes. Johannes ist der Einzige, der Jesus im Sterben sagen lässt: „Es ist vollbracht." Darin steckt ja eine Behauptung: Nämlich dass das, was hier geschieht, kein mehr oder weniger zufälliges Ereignis ist, das soundso viele andere Menschen in ähnlicher Weise erlitten haben. Sondern Johannes ist überzeugt: Was hier geschieht, geschieht aufgrund eines göttlichen Heilsplans. Und dieser letzte Satz Jesu, wie Johannes ihn überliefert, macht deutlich, dass Jesus um diesen Heilsplan weiß oder dass Gott selbst, in Jesus, ihn zu Ende bringt. Johannes will, dass wir, seine Leser oder Hörer, das glauben. Und wenn wir es glauben, wird es wohl, zumindest für den Moment, zu einer Gewissheit.
Weit weniger deutend, sondern zunächst einmal stärker berichtend gehen die Evangelisten Markus und Matthäus mit dieser Szene um. Bei ihnen lauten die letzten Worte Jesu ganz anders: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Ja, ist man versucht zu sagen: Dass einer, der stirbt, so etwas sagt, das kann ich mir vorstellen – auch wenn es ein Zitat aus dem 22. Psalm ist. Das ist doch viel realistischer als dieses „Es ist vollbracht.“
Aber Vorsicht. Auch hinter dieser Überlieferung kann eine theologische Absicht stecken. Nämlich dass Markus und Matthäus deutlich machen wollen: Gott hat sich ganz in diesen Menschen, Jesus von Nazareth, hineingegeben, ist ganz und gar Mensch geworden, um unser Leben zu teilen. Deshalb reagiert er, wie wir es kennen, mit Todesangst und dem Gefühl äußerster Einsamkeit.
Alles, was die Evangelisten sagen, zielt auf Deutung ab.
So erzählt Johannes davon, dass die Oberen der Juden zu Pilatus sagen: „Du hast über das Kreuz Jesu geschrieben: König der Juden. Schreib doch besser, dass er das nur behauptet, der König der Juden zu sein.“ Und Pilatus antwortet: "Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben." Man könnte hier lange darüber nachdenken, warum Johannes so ein starkes Interesse hat, Pilatus zu entlasten und die Hohenpriester zu belasten. Interessanter ist für mich an dieser Stelle eine andere, beabsichtigte Botschaft des Johannes: Nämlich festzuhalten, dass es sich gerade nicht ausschließt, dass der Gekreuzigte der König der Juden ist bzw. der König der Juden ein Gekreuzigter. Es muss geschehen, was hier geschieht – so sieht es Johannes. Denn darin zeigt sich der göttliche Heilsplan.
„Es ist vollbracht“, lässt Johannes Jesus sagen. Was ist denn vollbracht? Nun: Die Entmächtigung des Todes. Was haben denn die, die Macht haben wollen in dieser Welt, in der Hand? Sie können die Menschen locken, mit Geld oder Privilegien. So funktioniert das im besseren Fall. Oder sie bedrohen sie. „Tu, was wir wollen, oder wir sperren dich ein – und wenn das nicht hilft, bringen wir dich um.“ Was aber, wenn die Drohung nicht zieht? Was, wenn da einer ist, der dem Tod nicht ausweicht und ihn freiwillig hinnimmt? Dann verliert der Tod seine Macht, zu Teilen wenigstens. Dann entsteht Hoffnung. Dann weist schon hier, am Kreuz, etwas über das Kreuz hinaus.
An Karfreitag scheint alles aus zu sein, alles dunkel, alles zu Ende. Aber soweit der Tod Jesu dem Tod die Macht raubt, scheint hier schon etwas von dem österlichen Licht auf. Denn wenn der Tod seine Macht verliert, gewinnt das Leben.
Freilich, liebe Gemeinde, bleibt diese Botschaft leer, wenn wir nicht daran glauben und dem Weg Jesu nichts zutrauen. Lassen Sie mich noch einmal auf den eingangs erwähnten Zeit-Artikel zurückkommen: Er bezieht sich auf den „deutschen Papst“, Josef Ratzinger. Der hat kürzlich geäußert, der Missbrauch in der Kirche läge an der Verweltlichung. Die Kirche sei eigentlich unschuldig; Schuld sei die Verweltlichung in ihr. Das ist natürlich absurd. Und das ist der Hintergrund dafür, dass die Autorin sagt, die Kirche gewinne ihre Glaubwürdigkeit nicht dadurch zurück, dass sie – angestrengt – Glaubensgewissheiten aneinanderreiht.
Klar, wenn es um die Institution geht, zählen deren Taten. Die Kirchen – und das gilt eben auch für die evangelische – werden nur dann Glaubwürdigkeit zurückgewinnen können, wenn sie alles tun, was sie tun können, damit das, was geschehen ist, immer wieder, nämlich der Missbrauch von Kindern, sich nicht wiederholen kann. Man hebelt damit nicht aus, was da in Menschen auf schreckliche Weise wirksam ist, aber man muss dem wehren. Und natürlich wünsche ich mir das, um der Kirchen willen, mehr noch aber um der Kinder willen. Nur ist dieser Artikel ja aus Anlass des Osterfestes geschrieben worden und wendet sich in diesem Zusammenhang gegen – angestrengte – Gewissheiten. Und dazu muss man sagen (und die Autorin beschreibt das dann im Folgenden durchaus ähnlich): Die Kirche ist immer beides: Kirche Jesu Christi und Kirche der Menschen. Und dass das menschliche Verhalten zum Maßstab der Glaubwürdigkeit der Botschaft Jesu wird – das kann nicht sein.
Man schaue sich das Verhalten der Menschen um Jesus an: Soldaten würfeln um das Gewand eines soeben Hingerichteten. Einem Statthalter ist Ruhe und Ordnung wichtiger als das Recht. Religiöse Führer spinnen Intrigen und trachten einem Unschuldigen nach dem Leben. Selbst die Jünger fliehen. Und so gibt es nur einen, der die Wahrheit der Botschaft Jesus Christi verbürgen kann: Jesus Christus. Das mag dann aus unserem Mund wie eine angestrengte Gewissheit klingen.
Und noch etwas: Der, der da Mitleid hat mit den Scheiternden, den oftmals Schuldbeladenen, der, der da sagt: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, der ist selbst ein Scheiternder. Wer das Kreuz Jesu ernst nimmt und es nicht nur als eine Art Zwischenstation zur Auferstehung sieht, der wird das so sagen müssen. Er scheitert am Kreuz. Gerade deshalb ist er unsere Hoffnung. Gerade deshalb dürfen wir uns als Scheiternde von ihm angenommen wissen. Die Kirche ist nicht die Gemeinschaft derer, die umgekehrt sind.
Die Kirche ist die Gemeinschaft derer, die zur Umkehr aufgerufen sind. Wenn sie glaubwürdig ist, dann deshalb, weil sie sich ihres Scheiterns bewusst ist.
Amen
Vom Kommen des Gottesreiches - Kirche in der Krise - Markus 4, 26 - 29
Liebe Gemeinde, vor gut einer Woche ist eine von der EKD, der evangelischen Kirche in Deutschland, beauftragte Studie veröffentlicht worden. Sie haben davon sicher in den Nachrichten gehört und vielleicht in der Zeitung gelesen. Es geht – einmal mehr – um Missbrauch, sexualisierte Gewalt. Dabei ist deutlich geworden, was manche geahnt haben, nämlich dass mit dem Finger auf die katholische Kirche zu zeigen, nicht angebracht ist; von Einzelfällen kann auch in der evangelischen Kirche nicht die Rede sein. Hier wie dort sind es die vermeintlich geschützten Räume, die eben in Wahrheit keinen Schutz bieten, allzu oft nicht.
Als wir Kinder waren, haben uns unsere Eltern immer davor gewarnt, nicht mit fremden Männern mitzugehen, die uns mit Bonbons locken. Aber die fremden Männer sind statistisch gesehen nicht das Problem. Sondern die vertrauten Männer. Das gilt übrigens oft auch über den Missbrauch von Kindern hinaus. Es ist bitter, aber es ist so: Wo das Vertrauen groß ist, wächst die Zahl der Missbrauchsfälle.
Und – so sagt die Studie – es gibt eine typisch evangelische Art, mit dem Thema – unangemessen – umzugehen: Zwar haben sich in den letzten Jahren mehr Menschen getraut, über das, was sie erlitten haben, zu reden, sich an Gemeinden, Pfarrer und Pfarrerinnen oder an Kirchenleitungen zu wenden. Aber statt zu antworten: „Ja, das war unsere Organisation, die euch nicht geschützt hat“, hat man oft gesagt: „Wir sind auf eurer Seite: Bei uns könnt ihr es euch von der Seele reden.“ Und dann hieß es oft sehr bald: „Du musst lernen zu vergeben – nur das befreit dich von deinem Trauma.“
Nötig wäre gewesen zu begreifen, dass die Organisation Kirche gemeint ist, nicht der Pfarrer, der sich möglicherweise nichts zuschulden kommen ließ. Stattdessen haben manche Kirchenleute wohl gedacht: Na, ich war’s ja nicht – also zähle ich zu den Guten. Als Vertreter der Institution tun wir das nicht. Man hätte wohl kirchenunabhängige Stellen schaffen müssen, an die man sich wenden kann. Oder müsste es nun tun. Jedenfalls fordert das die Studie.
Noch einmal zum typisch Evangelischen: Es mag ja stimmen, dass es entlastet, wenn man jemandem vergeben kann. Wut und Zorn nagen an der Seele. Aber wo Vergebung zur Forderung wird, entlastet es nicht. Da dient es letzten Endes dem Schutz der Täter. Und es führt dazu, dass die, die Unrecht, Gewalt und Ohnmacht erfahren haben, ein zweites Mal gedemütigt werden.
Für die Studie lagen nicht alle erforderlichen Akten vor – zu viele rechtliche Hürden, vielleicht manchmal auch mangelnder Wille. Die Studie hat deshalb mit Hochrechnungen gearbeitet. Nimmt man die 2200 Fälle aus den vorgelegten Akten der Jahre 1946-2020 und rechnet diese Zahlen auf die gesamte EKD hoch, ergeben sich bundesweit rund 9000 Fälle. Was für Fälle sind das? Die Studie sagt dazu, dass es eine große Spannweite gibt. Aufschluss darüber, wie viele Fälle davon als schwer bezeichnet werden müssen, gibt zumindest die vorliegende Zusammenfassung der Studie nicht – vielleicht, weil es kaum abzuschätzen ist, welche Handlungen welche Folgewirkungen haben. Aber Fälle, in denen es nahezu keine Grenze gab, sind auch darunter. Was mich am meisten erschüttert hat: Es geht vor allem um Missbrauch von Kindern. Deren Durchschnittsalter liegt bei gut elf Jahren.
Liebe Gemeinde, als ich den Predigttext für den heutigen Sonntag las, das kleine Stück aus dem Markus-Evangelium, das wir vorhin gehört haben, habe ich gedacht: Das auch noch: Du kannst diese Studie nicht übergehen, musst es benennen, was nun mal der Fall ist. Andererseits gilt es (wie immer), den Predigttext auszulegen. Da geht es um das Reich Gottes – und darum, dass das von alleine komme. Das entsprechende griechische Wort kommt nur zweimal im Neuen Testament vor – und jeder und jede von uns versteht es: „automate“ steht da. Das Gottesreich kommt automatisch.
Ist das wirklich so? Muss das nicht in den Ohren derer, die sexuelle Übergriffe erleben mussten, in welcher Art auch immer, wie Hohn klingen? Wahrscheinlich. Aber vielleicht lohnt gerade deswegen die Auseinandersetzung mit dem biblischen Text.
Wovon reden wir, wenn wir vom Reich Gottes reden? Das Reich Gottes ist die Verheißung der Bibel, das Zentrum der Verkündigung Jesu. Kehrt um, so sagt er im Anschluss an Johannes den Täufer, denn das Gottesreiches ist nahe. Eine allzu große Hilfe, sich das Gottesreich vorzustellen, geben die biblischen Texte nicht. Es wird keineswegs mit dem Paradies, dem Garten Eden des Anfangs, gleichgesetzt. Wer sich eine bildliche Vorstellung vom Reich Gottes machen will, wird enttäuscht. Stattdessen reden die biblischen Texte davon, wie es sich auswirkt, wenn das Reich Gottes kommt: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium gepredigt. Das verlorene Schaf wird nicht aufgegeben. Wer sich verirrt hat, findet den Weg zurück. Und Recht und Gerechtigkeit fließen wie strömendes Wasser.
Das Reich Gottes ist der Ort, an dem Tod und Leid Vergangenheit sind. Dort geschieht kein Unrecht mehr zwischen den Menschen. Dort ist auch die Distanz zwischen Gott und Mensch aufgehoben. Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Denn all das ist vergangen.
Das große Gastmahl wird zum Sinnbild für das Gottesreich, der gedeckte Tisch, an dem man sich eingeladen fühlen darf. Da ist nur Gutes und Barmherzigkeit. Im Unterschied zu dieser Welt, ist das Gottesreich der Ort des Bleibens, der Ort, von dem wir nicht wieder abreisen müssen. Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar, sagt Psalm 23.
Das Reich Gottes ist also zunächst ein Gegenentwurf zur Zerrissenheit und zum Leid dieser Welt. Entsprechend gab es eine lange Phase, auch schon in alttestamentlicher Zeit, in der man sich das Kommen des Gottesreiches nur so vorstellen konnte, dass die alte, toddurchdrungene Welt untergeht. Und dann schafft Gott eine neue. Vermutlich ging es Jesus um dieses Motiv, dass Gott etwas Neues schaffen kann, das ihn dazu brachte, sich der Bewegung Johannes des Täufers anzuschließen. Johannes teilte das apokalyptische Gedankengut: Die alte Welt geht unter; Gott macht eine neue. Aber da hört die Schnittmenge zwischen den beiden dann auch schon auf.
In der Verkündigung Jesu kommt das Gottesreich quasi auf leisen Sohlen. Nur, wer Augen hat zu sehen, wird es überhaupt bemerken. Das Gottesreich ist wie ein Senfkorn, sagt Jesus, winzig klein, eigentlich unsichtbar. Aber so wie aus einem solchen Samen etwas wächst, so ist es mit dem Gottesreich auch. Sehen kann man das Gottesreich nicht, wohl aber seine Wirkungen. Die Frage: „Wo ist es denn, das Reich Gottes?“ ist deshalb unangemessen. Es ist etwas Inwendiges. Es entsteht da, wo Gefühl und Verstand sich berühren lassen. Es wächst im Herzen, das im jüdischen Menschenbild nicht nur der Sitz der Emotionen ist, sondern für die Einheit aus Einsicht, Wille und Verstand steht. Man könnte also sagen: Das Gottesreich – das ist Gott in uns.
Von diesem Gedanken aus wird verständlich, warum das Gottesreich von alleine kommen muss, automatisch. Denn wären wir nur auf uns gestellt, blieben wir ja die alten Menschen. Gut, man kann es mit Appellen versuchen: Ab Silvester oder auch ab morgen wird alles anders! Aber wird es das? Wir haben eine lange Geschichte der Versuche hinter uns, dass Gottesreich aus eigener Kraft zu errichten. Das 20. Jahrhundert ist davon geprägt gewesen. Die Nazis redeten nicht vom Gottesreich, hatten aber eine Vision der idealen Welt, die sie herbeizwingen wollten. Das bedeutete Krieg, damit das Volk, das vermeintlich ein Volk ohne Raum war, genug Platz hätte. Die ideale Welt, nur für Blonde und Blauäugige. Das Reich Gottes als Weltprovinz sozusagen. Die Marxisten stellten sich ein weltumspannendes, irdisches Himmelreich vor – ohne Konflikte, ohne Verteilungskämpfe. Aber die Sache schlug bekanntlich ins Gegenteil um. Die, die von Stalin in den Gulags eingesperrt waren und zu Tausenden gestorben sind, hatten sicher nicht das Gefühl, dass das so etwas wie das Reich Gottes ist.
Liebe Gemeinde, letzten Endes geht es in der Verheißung des Gottesreiches darum, dass das Leben den Sieg davonträgt, nicht Gewalt und Streit und Leid und Tod. Wir werden uns eingestehen müssen, dass unsere Welt, die wir kennen und die wir gestalten, so nicht ist. Unsere Welt ist endlich. Sie läuft immer auf den Tod hinaus. Und auch da, wo das Leben blüht, tauchen, manchmal unvermittelt, Schatten des Todes auf in Form von Unrecht, Neid, Gewalt und Leid.
Auch in der Kirche. Wenn wir etwas anderes wollen – und das sollten wir! – müssen wir sozusagen über unsere Welt hinausgehen. Für mich bedeutet das: Wir kommen ohne Gott nicht aus. Schon für das bloße „Gegeben-sein“ des Lebens brauchen wir ihn. Wir können das Leben nicht machen. Wir können es nur annehmen, es nutzen, es auskosten. Und hoffen, dass uns nicht Böses geschieht. Und hoffen, dass wir nichts Böses tun.
Ich glaube, wir kommen über unsere Welt aber schon ein Stück hinaus, wo wir begreifen, dass wir uns das Leben nicht rauben können. Und dass wir es uns nicht zu rauben brauchen. Gott füllt uns die Hände! Wir müssen die Dinge nicht einander wegnehmen, um zu leben. Das macht am Ende nur ärmer. Sondern wir können das, was Gott uns gibt, miteinander teilen. Was ist Missbrauch anderer Menschen denn anderes als Ausdruck der Angst, anderenfalls nicht genug vom Leben abzubekommen? Aber das ist die Logik einer Welt, die endlich ist. Dass ist die Logik einer Welt, die Angst hat, dass es nicht reicht. Dass ich nicht genug bekomme.
Gottes Welt reicht darüber hinaus. Und so möge der Funken, der das Leben entstehen ließ, uns immer wieder neu entzünden. Er möge unsere Herzen berühren. Er möge uns das geben, was wir uns selber nicht geben können. Jedem und jeder einzelnen von uns. Dieser Welt. Und auch der Kirche.
Geschieht das, was das Wissen um den Missbrauch in der Kirche fordert, nun von allein? Nein, natürlich nicht. Sondern das braucht Schuldeingeständnisse, Richtungswechsel, Schutzkonzepte. Geschieht das, was das Leben gelingen lässt, von allein? Ja, denn alles Wesentliche für das Leben können wir uns nur schenken lassen.
Amen
Du muss dein Leben ändern! - 1. Korinther 13,1 - 13
Liebe Gemeinde!
Du musst dein Leben ändern! So lautet der Titel eines Buches von Peter Sloterdijk, einem Philosophen, der es zu einer eigenen Fernsehshow gebracht hat. Du musst dein Leben ändern – mit dieser Aufforderung bildet er einerseits den Zeitgeist ab und versucht andererseits etwas in unserem Wesen freizulegen.
Wir sind nicht zufrieden mit uns, so scheint es. Nicht wirklich. Wir streben nach Veränderung, nach Verbesserung im Blick auf uns selbst. Das kann äußerlich beginnen, dass wir einfach mehr wollen, Größeres. Mehr Geld auf dem Konto, ein größeres Haus, eine weitere Reise, eine Sprosse mehr auf der Karriereleiter, einen schnelleren Computer – dann wird alles besser.
Da geht es scheinbar nur um das, was ich habe.
„Du musst dein Leben ändern“ heißt aber auch: Was ich bin, kann so nicht bleiben. Auch da kann man viel verbessern. Jeder Buchladen hat eine Abteilung mit entsprechenden Ratgebern. Großes Thema: Gesünder ernähren! Slow food statt fast food – da fühlt man sich gleich viel besser. Im entsprechenden Ratgeber steht, wie’s gemacht wird… Und dass es mehr Zeit kostet, nun ja, das kann man auch verbessern. Denn: Sich Zeit nehmen für das, was wichtig ist – so steht’s im nächsten Ratgeber – ist sowieso das Gebot der Stunde. Also: Gesund ernähren, sich Zeit nehmen – dann: viel Wasser trinken, lang genug schlafen: das senkt das biologische Alter.
Was es damit auf sich hat, steht im nächsten Ratgeber oder in der Bunten, in Hör Zu und der Fernsehzeitschrift: Das Alter sei heute mehr denn je relativ. Wie schnell die biologische Uhr tickt, könne man nämlich beeinflussen. Da ist jeder selbst verantwortlich. Allerdings: Wer trotz der Möglichkeit, all das selbst zu gestalten, sich schlapp fühlt, Ringe unter den Augen hat, nicht mehr so kann wie früher, es an jugendlichem Schwung vermissen lässt – der fühlt sich irgendwie schuldig.
Du musst dein Leben ändern: Wer im Sommer eine Bikinifigur haben will oder einen Waschbrettbauch, muss jetzt anfangen. Wer traut sich schon mit Speckröllchen an den Strand? Andererseits: Wer sich nicht an den Strand traut, bekommt womöglich nicht genug Sonne. Und Sonne macht glücklich. Das ist biologisch bewiesen. Nur mit dem geeigneten Schutz natürlich.
Ach, man kann so vieles verbessern, vernünftiger machen, überlegter, bewusster, ausgewogener: eben einfach besser. Wie hoch die Ansprüche sich schrauben lassen, zeigen für mich die Castingshows im Fernsehen. Wer sich da nicht hintraut, weil er oder sie den Idealen so gar nicht entsprechen will – kann der glücklich sein? Mädchen müssen groß sein, so knapp 1,80 m. Natürlich müssen sie dünn sein, höchstens 50 Kilo. Aber bitte nicht magersüchtig. Denn dann würde ja etwas mit dem seelischen Gleichgewicht nicht stimmen. Jungs haben es vielleicht etwas leichter, aber die Maßstäbe werden auch da strenger. So ein Junge, der nicht sportlich ist, womöglich nicht singen und tanzen kann, jedenfalls sich nicht bewegen kann, die Kleidung von lässigem Chic… nun, der müsste eben hart an sich arbeiten.
Du musst dein Leben ändern! Zwar leben in unserer Gesellschaft immer mehr ältere Menschen, die den Idealen der Castingshows nicht entsprechen können, aber das heißt nicht, dass es nicht auch hier entsprechende Ideale gebe. Wer etwa das Pensionsalter erreicht hat, wird doch wohl die neue Lebensphase aktiv gestalten wollen, oder nicht? Aktiver Ruhestand. Gut, das klingt zwar nach einem Widerspruch: Aktivität und Ruhe, aber man weiß ja, was gemeint ist. Das sind Sie sich schuldig! Vitalität und Lebensfreude sind das mindeste!
Manchmal erscheinen auch Ratgeber, die sagen: Ach, lass doch den ganzen Stress. Sei du selbst! Sei glücklich wie du bist! Was strengst du dich so an? Aber auch dahinter steht ein Ideal: Sei gefälligst entspannt. Tiki Küstenmacher, Pfarrerskollege und Zeichner von Karikaturen, hat einen Bestseller geschrieben: Simplify your life – Vereinfache dein Leben. Küstenmacher will entlasten, aber letztlich erklärt er doch wieder, was man tun muss, was wir verändern müssen.
Du musst dein Leben ändern! Darauf läuft es fast immer hinaus.
Warum erzähle ich ihnen das? Und warum erzähle ich es Ihnen heute? Nun, es hängt mit dem heutigen Sonntag zusammen. Estomihi heißt der und er ist der Sonntag vor der Passionszeit. Die Passionszeit aber, die Fastenzeit, steht unter eben diesem Leitmotiv: Ändere dein Leben! Es ist eine Zeit der Vorbereitung. Im Blick auf den Leidensweg Jesu sollen wir uns selbst erkennen: Was steckt da im Menschen und also auch in uns, dass sie einen verfolgen und töten, der nichts Böses getan hat. Kehrt um, sagt Jesus im Anschluss an Johannes den Täufer; also: Ändert euer Leben!
Noch ist Karneval. Noch ist von innerer Einkehr und Veränderung nicht die Rede. Oder doch? Karneval kommt aus dem Lateinischen und hat die Bedeutung: Fleisch wegnehmen. Die Passionszeit oder Fastenzeit zu begehen hieß ursprünglich ja: auf Fleisch zu verzichten. Karneval hieß ursprünglich also: Das beginnt jetzt… und da kann man ja noch mal einen draufmachen, bevor die Übung zur Verbesserung kommt. Beim Wort Fastnacht, die Nacht vor dem Fasten, ist das noch deutlicher. Wer also denkt, der Karneval, der Fasching, die Fastnacht seien dazu da, den inneren Schweinehund zu pflegen und bitteschön in mir alles so zu lassen, wie es ist … der irrt.
Heißt das dann, dass es diese Forderung „Du musst dein Leben ändern“ schon immer gab? Heißt es, dass das eine durch und durch christliche Forderung ist? Immerhin: Ich kann mich erinnern, dass es in meinen Kindertagen, in einem wenig religiösen Elternhaus, freitags Fisch gab (oder Senfeier), also kein Fleisch. (Jetzt könnte man die Konfirmanden fragen: warum freitags?) Wegen Karfreitag, der Kreuzigung Jesu. Jeder Freitag sollte daran erinnern, also daran, dass wir Menschen uns ändern müssen.
Dass die Fastenzeit insgesamt große Aufmerksamkeit auf sich zog, daran kann ich mich allerdings nicht erinnern. Nur in der Karwoche selbst spielte das Radio gedämpfte Musik. Heute erfreut sich die Fastenzeit wachsender Beliebtheit. Auch bei uns Protestanten. Achten Sie mal darauf, in wie vielen Zeitschriften darauf hingewiesen wird.
Es gibt eine kirchliche Aktion dazu, von der Diakonie, von „Brot-für-die –Welt“, die heißt: Sieben Wochen ohne. Aber das wissen Sie vermutlich, denn schätzungsweise zwei Millionen Menschen in Deutschland beteiligen sich daran. 1983 ist das entstanden und dann sehr schnell gewachsen. Sieben Wochen auf etwas verzichten. Sieben Wochen anders leben. Sieben Wochen über das eigene Leben nachdenken. Also sieben Wochen dem Motto nachgehen: Du musst dein Leben ändern?
Liebe Gemeinde, meinem Eindruck nach sind die, die für diese Aktion verantwortlich zeichnen, über die Jahre vorsichtig geworden. Denn wenn ich etwas verändere in meinem Leben, dann kommt es doch auf die Richtung an. Es kann ja nicht darum gehen, dass ich irgendetwas ändere. Dünner werden – und so verstehen viele Fasten – mag ja in etlichen Fällen sinnvoll sein… Aber angesichts grassierender Magersucht und dieses Modellwahns ist das ein arg zweifelhaftes Ziel. Deshalb zielt die Aktion „Sieben Wochen ohne“ auch nicht mehr so sehr auf das Fastenmotiv, sondern auf etwas, dass immer neues Nachdenken erfordert. Im letzten Jahr hieß die Aktion: Sieben Wochen ohne Ausreden. In diesem Jahr heißt sie: Sieben Wochen ohne falschen Ehrgeiz – gut genug!
Was ist bei all diesen Imperativen um uns her nicht an falschem Ehrgeiz dabei: Leb gesünder! Ernähr dich bewusster! Fahr mehr Fahrrad! Nimm dir Zeit für dich! Sei glücklich! Denk positiv! Finde dein inneres Selbst! Werde Du! Liebe deine Leidenschaften! Vertrau deiner inneren Stärke! Finde dein wahres Wesen! Ändere deinen Typ oder deinen Style!
Was davon ist wirklich erstrebenswert? Und wenn ich das Erstrebenswerte gefunden habe – und es nicht schaffe? Was dann? Gut genug, sagt die Aktion: Sieben Wochen ohne. Das wehrt, wie ich finde, so einem gottvergessenen Änderungszwang. Doch kein Menü à la Witzigmann hinbekommen, sondern nur Erbsen und Möhren von Bofrost? Gut genug. Keine dreieinhalb Kilo abgenommen? Gut genug. Immer noch am Hadern mit dieser alten Sache und nicht wirklich glücklich? Gut genug. Keine 2 in Mathe bekommen? Gut genug. Dieses Jahr nicht so weit verreist wie der Nachbar: Statt Thailand Wandern im Harz. Gut genug. Wieder nicht den Keller entrümpelt? Gut genug. Ich finde das entlastend und befreiend.
Liebe Gemeinde, wir haben vorhin diese wunderbare Epistel gehört, das Hohelied der Liebe. Es erzählt von der Freundlichkeit und Geduld der Liebe, von der Großzügigkeit und Freigiebigkeit, die ihr innewohnt. Ein Leben, das aus der Liebe lebt – das wär’s. Wer aber genau hinhört, der merkt, wofür Paulus, von dem diese Worte stammen, die Liebe hält: nicht für eine Verpflichtung, sondern für ein Geschenk. Letztlich ist alle Liebe ein Geschenk Gottes. Auch da, wo sie uns durch Menschen entgegenkommt.
Das wirft ein anderes Licht auch auf die Leidensgeschichte Jesu. Gewiss, die Leidensgeschichte Jesu zu bedenken heißt natürlich, dass wir uns fragen müssen, ob wir richtig leben oder ob wir die Todverfallenheit der Welt unterstützen. Die Leidensgeschichte Jesu bedenken heißt aber auch zu spüren, dass Gott mit uns und unseren Fehlern, unseren Verstellungen und Beschränkungen mitleidet. Seine Leidensgeschichte zu bedenken heißt auch, sich zu vergewissern, dass Gott die Macht des Todes gebrochen hat. Und nur, weil das so ist, weil Gott in uns etwas Neues möglich macht, kann in uns auch etwas Neues geschehen. Das Hohelied der Liebe fordert mehr Liebe ein, sicher. Aber es sagt zu allererst Gottes Liebe zu.
Du musst dein Leben ändern? Nein. Gott ändert mein Leben. Er hat es schon getan. Indem er mich der Gnadenlosigkeit des Verbesserungswahns entzieht. Nur, wo ich nicht muss, sondern darf, kann… ändert sich mein Leben und das Leben, das wir miteinander teilen, wirklich. Gott liebt uns mit unserem Bemühen, aber auch mit unserem Unvermögen. Er kann sagen: Es ist gut genug.
Sollten wir es dann nicht auch versuchen, ab und an? Lassen Sie uns so in die Passionszeit gehen – ohne falschen Ehrgeiz.
Amen
Leben in Christus - Galater 2, 16 - 21
Liebe Gemeinde, liebe Gäste,
haben Sie so etwas wie ein Ich oder ein Selbst? Dumme Frage, oder? Natürlich haben Sie so `was! Das Wort „Ich“ kommt in nahezu jedem Gespräch vor, das wir führen. Und selbst, wenn man zu vermeiden sucht, „Ich“ zu sagen, ist es unausgesprochen da.
Was unser „Ich“ betrifft, schwanken wir zwischen Extremen. Auf der einen Seite gilt es als Tugend, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Schließlich bin ich nur einer von rund sieben Milliarden Menschen; nur ein Staubkorn im Kosmos. Auf der anderen Seite verbindet sich mit unserem „Ich“ die Vorstellung der Einzigartigkeit. Identity-Card steht als englische Übersetzung auf meinem Personalausweis: Identitätskarte. Das Stück Plastik verbrieft, dass ich Ich bin, und niemand sonst meinem Platz einnehmen kann.
Gut: Hier auf der Kanzel kann natürlich jemand anderes meinen Platz einnehmen und an vielen anderen Orten auch. Aber mich als Person kann niemand ersetzen. Er wäre nicht Ich, er wäre ein anderer. Dazu muss es an mir – oder besser noch: in mir etwas geben, das anders ist als bei allen anderen und – und da wird’s heikel – etwas, das bleibt.
Wenn damals an dem Tempel im griechischen Delphi die Worte „Erkenne dich selbst“ standen, dann mag das vorwiegend eine Warnung vor Selbsttäuschung gewesen sein, und doch schwingt da schon etwas mit von dem Glauben an dies Unwandelbare in uns. Wir nennen Menschen auch Individuen. Wörtlich übersetzt heißt Individuum: Der Unteilbare. Der, den man nicht dividieren kann. Ähnlich wie man früher von den Atomen der Materie dachte, das seien die kleinsten Teilchen und sie würden, in welcher Verbindung zu anderen Teilchen sie auch immer stehen, stets gleich bleiben, weil sie eben unteilbar sein sollten, so denken wir das von alters her auch von uns: Nennen Sie es Seele. Nennen Sie es Identität, Ich, oder Selbst. Vielleicht kann man es auch Charakter nennen. Jedenfalls soll da etwas sein, dass die Unterscheidbarkeit von anderen, die Einzigartigkeit – dauerhaft – ausmacht, denn das Anderssein als alle anderen für einen bloßen Moment macht ja noch keine Wiedererkennbarkeit und also keine Identität. Klar: Unsere Vergänglichkeit sprach schon immer gegen den Gedanken eines bleibenden Selbst. Aber das führte dann nur dazu, dass das Ich, der Person-Kern in uns oder die Seele für ewig erklärt wurden. Übrigens waren das nicht zuerst die Christen, sondern die alten Griechen.
Haben wir nun ein Ich, ein Selbst? Oder kommt es uns nur so vor?
Fragt man einen Buddhisten, dann sagt der: Das Ich ist die große Illusion. Und gerade in dieser Illusion stecke die Wurzel des Leides. Denn das Ich, dass ja dauerhaft sein will und gleichbleibend, fürchtet sich. Es weiß um seine Vergänglichkeit, es erahnt oder erfährt sie durch Krankheit, durchs Altwerden oder durch den Tod, den wir vor Augen haben. Und diese Angst vor der Beschädigung oder Auslöschung des Ich – so sagen Buddhisten – trenne uns vom Leben, lasse uns in sorgenvollen Gedanken in der Zukunft sein oder in der Vergangenheit leben, in dem, was wir verloren haben. Aber solange wir uns an unser Ich klammern, leben wir, so sagen die Buddhisten, nicht im Jetzt. Wir bleiben Unerlöste, Leidende. Für einen Buddhisten ist nicht das Ich oder die Seele das Unwandelbare, während die Natur stetem Wandel unterliegt. Sondern da ist etwas in der Natur, Daseinfaktoren würden die Buddhisten sagen, die in ihrer Substanz bleiben und sich nur in ihrer je konkreten Gestalt umformen. Sie bilden immer neu Leben aus, zeitlich, immer wieder vergehend und zerfließend. Und wenn dabei ein Mensch entsteht, dann trägt der eben die Illusion mit sich, ein bleibendes Ich zu besitzen.
Ich bin kein Buddhist. Aber ich finde es schon interessant, wie andere Kulturen und Religionen Fragen an uns richten. Und hier scheint doch zumindest der Finger in eine Wunde gelegt zu sein. Haben wir wirklich ein unvergängliches Ich? Nicht nur die Buddhisten, auch die modernen Naturwissenschaften nähren Zweifel daran. Das Ich ist zerbrechlich. Ein Unfall, ein Schlaganfall, Krankheiten können dazu führen, dass das, was für einen Menschen typisch war, verschwindet. Es ist noch der gleiche Mensch, er trägt noch den gleichen Namen – und doch ist es ein anderer. Das kann geschehen.
Entwicklungspsychologen haben aufgezeigt, wie viel Prägung in den ersten Lebensjahren stattfindet. Die klassische Vorstellung von einem Selbst, das einem Menschen mit in die Wiege gelegt ist, um dann nur noch ausgeformt zu werden, ist infrage gestellt. Was uns ausmacht, ist wohl eher ein langer Prozess der Anpassung an unsere Umwelt als das Durchhalten bestimmter Wesenszüge. Wir sind bedenklich flexibel. Das gilt auch für unsere jeweilige Vergangenheit. Unsere Vergangenheit scheint eher etwas zu sein, was wir uns zurechtlegen als dass unser Gedächtnis sie neutral protokolliert. Unangenehmes können Menschen vollständig verdrängen.
Ein Kollege hat formuliert: Wir finden uns nicht, sondern wir erfinden uns. Und er setzt hinzu: Wer da in sich sein „wahres Ich“ zu finden sucht, dem geht es wie beim Häuten einer Zwiebel: Man kann sie häuten, Schale um Schale, um schließlich festzustellen: Da ist kein Kern. Je mehr in dieser Weise die Rede vom individuellen Ich zweifelhaft wird, desto mehr scheinen wir darauf aus zu sein, uns als etwas ganz Besonderes, Individuelles, Unverwechselbares darzustellen. Auch und nicht zuletzt vor uns selber.
Gestern, früher Nachmittag, als es draußen am wärmsten war, zog sich meine Frau in das kühle Zimmer zurück, in dem unser Fernseher steht, und amüsierte sich über eine Seifenoper: Erfolgreicher Herzspezialist aus Berlin macht nach dem tragischen Tod seiner Frau Urlaub mit den Seinen in Irland und übernimmt schließlich die Landarztpraxis seines alt gewordenen irischen Kollegen. Wohlgemerkt: Nicht in der Uckermark, was naheliegend gewesen wäre, sondern in Irland. Das Auto, das er dabei hatte (und nach Irland mit dem Auto zu kommen, ist gar nicht so leicht), kannte ich nur aus dem Autoquartett meiner Kindheit. Auf der Straße habe ich so was noch nie gesehen. Aber so ein erfolgreicher Herzchirurg ist eben kein Mann von der Stange, was durch den Verzicht auf Geld und Ruhm nur noch unterstrichen wird. Dann trifft er eine junge Frau, die ebenso schön wie warmherzig ist, rettet jemandem das Leben usw. Es braucht das Außergewöhnliche, um einzigartig zu sein.
Samstags kann man von unserer Wohnung aus beobachten, wie Hochzeitsgesellschaften sich gegenseitig überbieten. Weiße Strumpfbänder an kokett vorgestreckten Beinen sind Standard, die amerikanische Stretch-Limousine auch. Hundert rote, herzförmige Luftballons mit individuellem Aufdruck, die in den Himmel aufsteigen – schon besser. Vor einigen Jahren bat mich ein Paar, sie in einem Sonderzug der Warnetalbahn zu trauen. Oder wie wär’s in einem Heißluftballon?
Was man als Individualist, als Mensch mit einem einzigartigen Ich, gar nicht machen darf, ist Pauschalurlaub – am Ende auf Mallorca. Freeclimbing auf Island oder Survival am Kilimandscharo: viel besser. Manche legen sich Tausende Euro teure Weinflaschen in den klimatisierten Keller, nicht um ihn zu trinken, sondern um etwas zu haben, was niemand sonst hat. Oder um etwas zu sein, was niemand sonst ist? Natürlich ist das anstrengend, und Pauschalurlaub ist nun mal billiger. Und das Schlimmste ist: Da sind diese sieben Milliarden anderer Menschen, und gar nicht wenige davon wollen auch individuell sein und klettern jetzt auch in Island und heiraten im Heißluftballon …
Paulus schreibt: Christus ist sein Ich geworden. Er will, er braucht sich nicht mehr abzustrampeln für sein Ich. Natürlich interessierte ihn, einen Menschen der Antike, nie der Individualtourismus. Den hatte er auf seinen Reisen, und es war ihm eher eine Last. Aber auch er ist in Sorge um sein Ich, er war es. Er wollte es durch eigene Leistung zu etwas Besonderem machen. Gut-sein war sein Rezept. So leben, dass alle Gebote Gottes erfüllt werden. Aber das ist ebenso anstrengend wie es anstrengend ist, ständig anders sein zu müssen als die anderen. Er weiß, dass da diese Selbstsucht in uns ist, dieses ängstliche Ich, das dauernd „hier“ ruft. Und die Selbstsucht, die Angst um sich selber, trennt uns über kurz oder etwas länger vom Guten. All das, sagt Paulus, ist aber nun in mir gestorben. Die Angst um mich selber ist gestorben, mitgestorben am Kreuz Christi. Und er hat nun Anteil an der Auferstehung Jesu Christi: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Das meint keine Fremdbestimmung. Da ist nicht jemand in ihm, der ihm das Heft aus der Hand genommen hat, der ihn an seiner statt lenkt. Das wäre Besessenheit. Sondern wenn Paulus davon spricht, dass Christus in ihm ist oder er in Christus ist (wie er an anderer Stelle sagt), dann meint er das Eintreten in eine Kraft, die von Jesus Christus ausgeht. Darin spiegelt sich die Kraft der Liebe Gottes, die die Angst und den Tod besiegt.
Manchmal, punktuell machen wir ja die Erfahrung (hoffentlich), dass uns jemand so liebt, die Eltern oder der Partner, dass wir für einen Augenblick die Sorge um uns selber vergessen. Ich bin ich, weil ich geliebt bin. Nicht weil ich etwas habe oder kann, sondern einfach so. Diese Erfahrung meint Paulus: Er spürt die Liebe Gottes und fühlt sich in ihr geborgen. Sie macht sein Ich stark, so stark, dass es aufhören kann, „Ich, ich“ zu rufen. Ich muss mich nicht beweisen – denn Gott fordert es nicht von mir. Und er will, dass ich es nicht von mir fordere. Ich brauche keine Angst zu haben: Nicht vor Bedeutungslosigkeit, nicht davor, allzu normal zu sein, nicht vor Krankheit, Alter und Tod. Denn Gott hält mich. Ich bin vergänglich, ja, aber in Gottes Liebe bleibe ich. Ich brauche keine Angst zu haben, nicht zu genügen. Denn da ist Gottes Liebe zu mir, zu dir. Und das ist genug.
Amen
Ewigkeitssonntag - Das neue Jerusalem - Offenbarung 21, 1-7 (mit einem Zitat aus Monika Maron, Das Haus)
Liebe Gemeinde, die Schriftstellerin Monika Maron in ihrem Roman "Das Haus“:
Eines Morgens lag der Himmel tiefblau in 1000 glitzernden Tautropfen auf der Wiese hinter dem Haus. Die Morgensonne senkte sanft ein paar Baumschatten ins Gras. Manchmal dampfte der Himmel auch weiß aus den alten Linden am Kriegerdenkmal oder den riesigen Kastanien am Schulweg, wenn ein Sommergewitter den Staub vom Kopfsteinpflaster gewaschen hatte.
Himmelunten also – zwischen Kuhstall und Kirchhof in einem Dorf in der Mark Brandenburg – schlug mein Kinderglaube die Augen auf.
In der Schule gab es keinen Gott. So besuchte ich ihn nachmittags mit Sumpfdotter unter den Kopfweiden am Bach, mit Klatschmohn und blauen Kornblumen am Feldrain, mit gelben Butterblumen in den dunkelgrünen Feuchtwiesen. Als Dank schickte er im Sommer Wolkenschiffe übers Land. Der Winterhimmel klirrte hell mit Eisblumen in den Fenstern. Am Heilig Abend kam er zwischen Wachskerzen und Strohsternen in die kalte Kirche und hisste weiße Fahnen über den singenden Mündern. „Ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben.“ Gott war ein himmlisches Kind. Bis Neujahr hüllte sich die Welt in ein geliehenes Schneeweiß. Dann wurde das Jahr umgekippt und die Sehnsucht auch. Manchmal wurde ein Kind im Winter getauft. Dann dampfte der Himmel im Taufwasser, und der Jordan floss von unten nach oben. Die alte Welt stand Kopf.
Von Gott blieb eine innig leuchtende Spur im Herzen.
Glaube, liebe Gemeinde, hat etwas mit der Sehnsucht danach zu tun, dass die alte Welt Kopf stehen möge. Was obenauf lag, besonders das, was schwer lastend obenauf lag, soll nach unten gekehrt werden. Und aus den Tiefen unserer Sehnsucht soll aufsteigen, was das Leben hell und freundlich und neu macht.
Ich sagte es eben schon. Die Zeilen, die ich Ihnen eingangs vorgelesen habe, stammen von der Schriftstellerin Monika Maron, die in der DDR aufgewachsen ist und unter dem SED-Regime gelitten hat. In der Schule gab es keinen Gott. In diesem Satz deutet sich an, dass man nicht einfach denken durfte und schon gar nicht sagen durfte, was man wollte. In letzter Zeit gab es Diskussionen um sie wegen nicht ganz unproblematischer politischer Äußerungen, was aber an der Schönheit der eingangs zitierten Worte nichts ändert, wie ich finde. Sie berichten von Kindertagen, in denen der Himmel noch beinahe selbstverständlich zu Besuch kommen konnte. Und sie konnte Gott besuchen gehen mit Wiesenblumen in der Hand. Der Himmel liegt glitzernd auf der Wiese hinter dem Haus, zeigt sich im klaren Licht nach einem Regenguss, kommt im Daherziehen der Wolken, offenbart sich im Fensterschmuck aus Eisblumen oder gewinnt im Gesang an Heiligabend in der Kirche Gestalt.
An solche Erlebnisse und Erfahrungen unmittelbar anzuknüpfen, wird im Erwachsenenleben schwer, mindestens schwerer. Die Dinge neigen dazu, nur noch zu sein, was vor Augen ist. Und wir können von Glück sagen, wenn da eine innig leuchtende Spur im Herzen blieb von Gott und von seinem Himmel.
Ein Pfarrerkollege schreibt dazu: „Die Macht der Gewohnheit raubt der Hoffnung allmählich die Konturen. (…) Bald verändert sich nicht nur Hören und Sehen, sondern auch die Wahrnehmung. Zuerst zerplatzen die Illusionen, dann entfärben sich die Träume. (…) Tatsachen bestimmen (…) Gedanken und Pläne. Zuletzt sind selbst die Aussichten so fest gebunden, das schon für das kleinste Alltagswunder der Raum fehlt. Der Himmel verliert sich, die Welt altert weiter vor sich hin. Das Staunen vergeht angesichts präziser Leistungskurven. Der Glaube verblasst. Es ist ein schleichender Prozess. Etwas wie verschlepptes Heimweh. (…)“ Und dann setzt er hinzu: „Wer seine Träume retten will, muss sich losreißen.“
Der Seher Johannes tut das, vor gut 1900 Jahren. Er hat allen Grund dazu. Denn er ist auf die Insel Patmos verbannt. Vermutlich handelte es sich um eine Art Beugehaft, denn die Christen wie auch die Juden weigerten sich, die römischen Götter zu verehren und so auch den Kaiser, der nach seinem Ableben zum Gott aufstieg. Jede Münze mit dem Konterfei des Gott-Kaisers wurde so zum Problem. Aber natürlich erst recht die staatlich verordnete Verehrung bestimmter Gottheiten. Es war nicht absehbar, dass sich an diesem Konflikt zwischen den streng monotheistischen Anhängern von Christen- und Judentum und der römischen Staatsmacht etwas ändern würde. Und es war bereits spürbar, wer die Sieger und wer die Leidtragenden sein würden. Die Verbannung des Sehers Johannes fällt wohl noch in die Regierungszeit von Kaiser Domitian, unter dem es nur vereinzelt zu Christenverfolgungen gekommen war. Aber das sollte sich ändern – und Johannes ahnt das. Er ahnt, dass es vielen gehen wird wie ihm.
Was ihm hilft und Kraft gibt, sind seine Visionen. Die sind aber nicht von jener kindlichen Leichtigkeit, durch die das Glitzern von Tautropfen zum Abbild des Himmels werden kann. Die Bilder, die sich seinem geistigen Auge zeigen, müssen dem standhalten, was er tagtäglich erlebt. Gefängnisalltag. Der Himmel über Patmos ist bleischwer. Die Worte des Apostels Paulus, dem es ähnlich erging, mögen Johannes Situation beschreiben: Er erleidet Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger, Blöße und Gefahr, bis hin zur Todesgefahr. Dagegen erheben sich die Bilder, die in ihm aufsteigen. Er weiß: Nur, wenn Gottes Himmel sich auf die Erde herabsenkt, ja, wenn die alte Welt untergeht und ein neuer Himmel und eine neue Erde entstehen. Nur dann werden die Erfahrungen von Leid, die die Gegenwart prägen, überwunden werden.
Johannes nimmt damit Anteil an einem über mehrere Jahrhunderte sich hinstreckenden Traditionsstrom, der sogenannten Apokalyptik. Eine kosmische Katastrophe werde kommen und dann ein vollständiger Neubeginn, eine neue Schöpfung. Das ist ein gewaltiger und gewalttätiger Vorgang – aber dann folgen friedvolle und sogar zarte Bilder. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und Gott wird nahe sein, mitten unter ihnen wohnen.
Der Himmel auf Erden, oder vielmehr: eine neue Erde, die wie der Himmel ist. Der Seher Johannes besteht darauf, dass alles ganz neu und ganz anders sein wird – nichts von dem, was jetzt ist, wird Bestand haben. Und dennoch: So sehr Johannes auf den totalen Bruch mit der alten, leidvollen Welt besteht, so klar und deutlich ist doch die innere Verbindung mit dem, was ihn jetzt belastet – die Not beflügelt die Visionen. Und so schreibt er: Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Liebe Gemeinde, und vor allem: liebe Angehörige der im vergangenen Jahr Verstorbenen: Wir brauchen diese Bilder! Die Welt, die uns tagtäglich umgibt, hat dafür wenig Sinn. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat – vor etwa 100 Jahren – gefordert: Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Nur, was wir wissenschaftlich vermessen können, sei der Rede wert. Alles andere verwirre nur. Und natürlich können wir nur ausmessen, was innerweltlich ist. Der Tod aber markiert die Grenze zwischen Hier und Dort.
Und so können Bilder von einen anderen, bleibenden Welt, nicht wissenschaftlich sein. Sie erwachsen aus der kindliche Unbeschwertheit und Offenheit dafür, dass die Wirklichkeit eine Tiefendimension hat, ein Dahinter-Liegendes, dass dem Leben erst Sinn und Halt gibt. Oder sie erwachsen aus Hoffnung – Hoffnung, die notwendig ist, die die Not wendet. Hoffnung – so las ich neulich – habe im Gegensatz zu Zuversicht, die voller Tatendrang ist, etwas Melancholisches. In der Hoffnung schwingt die Trauer noch mit – und ist doch bereit, über sie hinaus zu kommen.
Wir brauchen die Bilder von Gottes Welt, auf die wir zugehen. Bilder, wie der 139. Psalm sie uns anbietet: Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Oder auch Bilder, wie Johannes sie sieht: Eine Stadt, das neue Jerusalem, die sich vom Himmel herabsenkt, wo alle Not ein Ende hat. Oder es ist nur dieses dem Alltag entnommene Bild: Gott wird abwischen alle Tränen von den Augen der, die weinen – so wie eine Mutter es mit zärtlicher Geste tut.
Wir brauchen diese Bilder. Andererseits müssen wir nicht jedes davon zu unserem eigenen Bild machen. Die Vorstellung, dass die Welt in einer kosmischen Katastrophe in sich zusammenstürzt und Gott dann eine neue macht, ist mir eher fremd. Aber eines kann und will ich doch glauben: Wenn dieses Leben hier mehr ist als ein bewusstloser Zufall, wenn Gott es geschaffen und angestoßen hat – warum soll ich dann nicht glauben, dass er sich und seinem Schöpferwillen treu bleibt? An die Schöpfung zu glauben, heißt zu glauben, dass das Leben aus dem Tod geschaffen wurde. Warum sollen wir dann nicht glauben, dass Gott auch jenseits der Grenze unseres individuellen Todes Leben bereithält?
Leben, das uns geborgen sein lässt. Leben, das die Dunkelheit hell macht. Leben, das uns von Liebe umfangen sein lässt.
So sei es. Amen
Der 12jährige Jesus im Tempel - Lukas 2, 41 - 52
Die Eltern Jesu gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passahfest.
Mit diesen Worten, liebe Gemeinde, beginnt die Erzählung des Evangelisten Lukas über den zwölf Jahre alten Jesus, der verloren gegangen zu sein scheint. Das Passahfest wurde als Wallfahrtsfest gefeiert, d.h., dass viele Menschen jüdischen Glaubens sich von dort, wo sie wohnten, auf den Weg machten nach Jerusalem, zum Zentralheiligtum, dem Jerusalemer Tempel. Groß war das Land nicht, aber ein paar Tage Anreise zu Fuß konnte das schon bedeuten. Dort, in Jerusalem, wurde dann gefeiert, sieben Tage lang: ein großes, gemeinschaftliches Fest. Beim Passahfest geht es um die Erinnerung an die zentrale, identitätsstiftende Erzählung des jüdischen Glaubens, nämlich den Auszug der Israeliten aus der Knechtschaft in Ägypten. Ein Fest der Freiheit also.
Der zwölfjährige Jesus nahm das offenbar wörtlich, denn während seine Eltern am Ende des Festes zurück nach Nazareth zogen, wo sie wohnten, blieb der Junge noch. Ja, haben Sie denn auf den Jungen nicht aufgepasst, auf ein Kind? Nun galt man mit zwölf Jahren damals als beinahe erwachsen. Überdies waren die familiären Strukturen unseren heutigen Kleinfamilien denkbar unähnlich. Die ganze weitverzweigte Familie, auch Freunde und Bekannte aus dem überschaubaren Nazareth kannten den Jungen natürlich. Und alle Erwachsenen kümmerten sich um die Heranwachsenden, hatten ein Auge auf sie. Also hält sich die Aufregung der Eltern anfangs in Grenzen: Er wird wohl unter den Verwandten und Bekannten sein, die in großer Zahl auf der Heimreise sind. Aber da ist er nicht.
Und so kehren Maria und Josef noch einmal um, gehen zurück nach Jerusalem, um nach Jesus zu suchen. Drei Tage später – inzwischen ist die Sorge groß – finden sie ihn. Er sitzt im Tempel unter den Lehrern. Er stellt Fragen, er hört zu, er gibt Antworten, er lernt. Aber dafür haben die Eltern im Moment keinen Sinn, dafür war ihre Sorge zu groß: „Wie konntest du uns das antun?“ Und der Junge entschuldigt sich nicht einmal.
„Pubertät ist, wenn die Eltern komisch werden.“ Diese ironische Bemerkung hörte ich neulich von einem Vater mit Kindern in der Ablösephase. Eben noch war Papa der größte und beste – und plötzlich schaut er nur noch in genervte oder scheinbar gelangweilte Gesichter und sieht sich ständig irgendwelchen Nörgeleien ausgesetzt. Mama ergeht es auch nicht besser. Dinge zusammen machen in der Familie, so wie in den Tagen, als die Kinder noch Kinder waren – das geht nun kaum noch. Entsprechend groß sind die Reibungsflächen. Der Alltag muss doch aber funktionieren; wie soll das gehen, wenn die pubertären Kinder sich nicht mehr an die Regeln halten? Oder aus Sicht der Kids: was soll das mit all diesen doofen, völlig überholten Regeln? Das ist doch Kinderkram!
Wer hat in diesem Konflikt recht? Nun, beide Seiten natürlich: die Eltern, die nicht ohne Grund bezweifeln, dass die Kinder, die plötzlich so erwachsen und selbstständig tun, auch wirklich erwachsen und selbstständig sind. Aber auch die in der Ablösungsphase steckenden Kinder haben recht, denn das, was sie vorhaben, oft unbewusst, nämlich selbstständig und unabhängig werden, ist tatsächlich eine Notwendigkeit. Und, Hand aufs Herz: Was ist denn besser: ein paar Jahre lang anstrengende Pubertierende zu ertragen oder jahrzehntelang so einen Nesthocker zu haben, der keine Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen möchte? Dennoch: In gewisser Weise sind die Karten ungleich verteilt hinsichtlich der Frage, wer in diesem Konflikt im Recht ist und wer nicht. Denn schaut man sich die Sache aus unbeteiligter Perspektive an, erfährt man von den Medizinern, dass die Pubertät auch eine neurologische Umbauphase ist: alte Vernetzungen im Hirn werden gekappt und es braucht eine Weile, bis es neue Anschlüsse gibt, die einigermaßen passen. So gesehen werden natürlich nicht die Eltern komisch, sondern die Kinder … anders.
Und so existiert auch in Zeiten wie unseren, in denen Eltern oft eher freundschaftliche Beziehungen zu ihren Kindern pflegen möchten mit einem Höchstmaß an Gleichberechtigung, immer noch dieser alte Konflikt, von dem die Geschichte des zwölfjährigen Jesus erzählt. In einem Artikel zum Thema Pubertät las ich folgende Beschreibung: Das seelische Auf und Ab in der Pubertät ist sprichwörtlich. Die Ursachen für Stimmungswechsel sind vermutlich Umbauvorgänge im Gehirn. Traurige Phasen können sich mit überschwänglichen Glücksgefühlen abwechseln. Manchmal verhalten sich Jugendliche reif und „vernünftig“, können im nächsten Moment aber wieder kindlich und albern sein. Oft gilt es auch, rebellische Phasen zu überstehen – mit Wutausbrüchen, allgemeiner Gereiztheit und demonstrativer Abgrenzung gegenüber den Eltern. Solche Phasen können das Zusammenleben in der Familie, manchmal auch Freundschaften belasten. Manche Mädchen oder Jungen haben nicht nur Probleme mit ihrer Umwelt, sondern auch mit sich selbst. Das seelische Durcheinander wird durch erste romantische Gefühle und Sehnsüchte verstärkt. Oft sind die körperlichen Veränderungen bereits abgeschlossen, bevor sich eine emotionale (…) Ausgeglichenheit einstellt.
Liebe Gemeinde, ich denke, dass wir das alle aus unterschiedlichen Perspektiven erlebt haben und vermutlich nur bestätigen können. Aber eines kommt mir in dieser Beschreibung zu kurz. Denn sich aus dem Elternhaus zu lösen und ein eigenes Leben zu entwerfen, heißt eben auch, dass man ein eigenes Wertesystem finden muss, eine eigene Lebensdeutung. Was ist wichtig? Und was ist richtig?
Die Kindheit lässt ein zunächst wie selbstverständlich in eine bestimmte Umwelt hineinwachsen, natürlich zuerst ins Elternhaus. Entsprechend übernehmen Kinder Denkweisen der Eltern. Aber dann brechen die Fragen auf: sind mir die gleichen Dinge wichtig wie meine Eltern? Und beurteile ich richtig und falsch noch so wie sie? Bei der Neuorientierung helfen Freundeskreise und bestimmte Leitfiguren. Und doch muss innerlich eine neue Gewissheit, ein innerer Grund, eine eigene Entscheidung wachsen.
Kurz: es geht um die Frage nach dem Lebenssinn.
Es kommt nicht von ungefähr, dass heranwachsende Jugendliche überdurchschnittlich häufig in echte Lebenskrisen geraten und ihnen plötzlich alles sinnlos und leer erscheint. Wir Erwachsenen deuten es ja meist als Zeichen innerer Festigung, dass wir ein scheinbar selbstverständliches, meist pragmatisches Verhältnis zum Leben gefunden haben. Da gilt es den Alltag zu meistern, Geld zu verdienen, sich zu behaupten, bestimmten Pflichten nachzukommen und so weiter. Für die Frage nach dem Warum und Wozu bleibt entweder keine Zeit oder keine Neigung. Deshalb ist es gar nicht so selten, dass Jugendliche eine Ernsthaftigkeit an den Tag legen – sei es, dass sie bestimmte Dinge verstehen wollen; sei es, dass sie mit großer Unbedingtheit für eine bestimmte Sache eintreten (denken Sie an die Fridays for Future- Bewegung).
Demgegenüber haben wir Erwachsenen häufig eine Neigung zu sagen: „So ist es eben.“ „Man muss auch Kompromisse machen können.“ „Das Leben ist kein Wunschkonzert.“ „Schlag dir die Flausen aus dem Kopf.“ Das Leben ist dann nicht mehr so sehr eine Frage, als vielmehr eine Aufgabe. Und die erfüllt man eben.
Dieser Junge aus Nazareth, Jesus, ist so einer, der sich nicht so leicht zufriedengibt. Der sich nicht abspeisen lässt mit vorgefertigten Antworten. Der offenbar alles um sich her infrage stellt, alles verstehen und seinen Weg finden will. Mit dieser gegenüber seinen Eltern eher eigensinnigen Aktion (einfach mal da bleiben, wo es interessant ist) macht er den Anfang. Später wird er ganz und gar aus dem bürgerlichen Leben ausbrechen, Menschen um sich sammeln, die ebenfalls alles Bisherige hinter sich lassen, und er wird ein Rabbi auf Wanderschaft werden. Wenn Sie so wollen, hat er seine Konflikte mit der Erwachsenenwelt auch dann noch, als er selbst längst erwachsen ist.
Seine „Vorschläge“ – so will ich es einmal nennen – klingen oft so, als stammten sie von einem aufgeweckten Jugendlichen: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet. Sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Klingt wie eine Regieanweisung für Aussteiger aus dem bürgerlichen Leben – stammt aber aus der Bergpredigt Jesu. Dass er für die Feindesliebe eintritt (die zu lieben, die einem nahe sind, sei schließlich einfach), dass er Gewaltfreiheit will (die andere Wange hinhalten), dass er für Vergebung eintritt und für den Verzicht auf Vergeltung: das alles sind Beispiele für die Sehnsucht nach einer anderen, einer besseren, vielleicht sogar einer vollkommenen Welt.
Um der Teilhabe an dieser Sehnsucht willen, wird der erwachsen gewordene Jesus Menschen in seine Nachfolge rufen. Sei mit mir unterwegs zu jener anderen Welt, die Gott uns verheißen hat. Lass das Alte, Gewohnte, allzu Kompromissbehaftete hinter dir! Hier, in der Geschichte vom 12jährigen Jesus, deutet sich an, was er später fordern und vorleben wird. Diese gewisse Entfremdung von seinen Eltern, die sich hier zeigt (gerade darin, dass sie sich am Ende ja gar nicht verständigen können), ist nur der Vorbote späterer Entfremdungen. Die kann so weit gehen, dass der umherwandernde Jesus, als er Besuch von seiner Familie bekommt, sich quasi von ihr lossagt. Die den Willen Gottes tun, die seien seine Mutter und seine Geschwister, nicht die, die ihn nur mal wiedersehen wollen.
Teile meine Sehnsucht nach der Welt, die Gott vorschwebte, als er sie schuf! Folge mir und diesem Weg – oder bleibe zurück! Das gewohnte Wertesystem wird ersetzt durch ein neues.
Liebe Gemeinde, es ist ja eher ruhig geworden um dieses Ausnahmekind, das sich an die Spitze der Klimaschutzbewegung gestellt hat – Corona hat das in den Hintergrund gedrängt. Ich frage mich, was ich denn gesagt hätte, wenn eines meiner Kinder so etwas getan hätte wie Greta Thunberg: Schule schwänzen, weil es Wichtigeres, Drängenderes gibt. Sich mit einem Pappschild auf die Straße setzen. Warten, ob man für verrückt erklärt und dort weggeholt wird – oder ob sich andere dazugesellen. Was hätte ich gesagt: Kind, sieh doch ein: das Leben ist ein großer Kompromiss? Du kannst doch nicht mit dem Kopf durch die Wand?
Der Schlusssatz aus Lukas‘ Geschichte über den 12-jährigen Jesus lautet: Das Kind aber wuchs und wurde stark, voller Weisheit, und Gottes Gnade lag auf ihm. Die Weisheit, die Jesus entwickelt, verlangt uns einiges ab. Es ist eine Weisheit, die sich der Hoffnung verschreibt, statt der Gewöhnung. Sie erhebt einen hohen moralischen Anspruch, statt sich einfach zu gewöhnen an das, was ist.
Lassen wir uns also von der Idylle des Stalls von Bethlehem nicht täuschen. Gott kommt nicht in unsere Welt, damit sie die alte bleibt. Das Kind bleibt nicht der holde Knabe mit dem lockigen Haar, dass das Herz wärmt. Sondern Jesus fordert uns heraus. Wollt ihr euch abfinden? Oder wollt ihr eine Welt, die gut ist, gerecht, friedvoll, liebevoll? Und es liegt an uns, ob wir diese Herausforderung als eine Zumutung empfinden – oder als ein Geschenk.
Amen
Estomihi Jesaja 58, 1 - 9
Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit!
So, liebe Gemeinde, so beginnt der Predigttext für den heutigen Sonntag aus dem Buch des Propheten Jesaja – eine harsche Anklage und ein Auftrag: Sag was, erhebe deine Stimme!
Die Zeit, in der der Prophet diesen Auftrag Gottes erhält, ist nicht gut. Krisenzeit. Wirtschaftlich und politisch läuft es nicht so, wie erhofft. Und was schlimmer ist: Die Menschen sind in gewisser Weise von einer Depression erfasst. Sie haben gehofft; und die Hoffnungen zerschlagen sich immer wieder. Und dann setzt dieser mühsame Prozess ein: Bald, bald wird es besser. Aber es wird nicht besser.
Es ist die Zeit nach dem sogenannten babylonischen Exil. In der Region östlich des Mittelmeers sind die Perser an die Macht gekommen und damit verbanden sich große Hoffnungen bei den Israeliten. Endlich durften sie aus dem erzwungenen Exil in Babylon zurückkehren, Israel wieder aufbauen, womöglich den Tempel in Jerusalem von neuem errichten. Und so hatte die Hoffnung lange Zeit eine klare Kontur: Wir kehren zurück und damit gehen wir besseren Zeiten, ja, guten Zeiten entgegen! Nun sind sie zurück, aber keine ihrer hochfliegenden Hoffnungen hat sich erfüllt. Es liegt alles darnieder. Das Land kommt nicht auf die Beine.
Also klagen sie. Eigentlich klagen sie Gott an: Warum siehst du nicht auf uns? Siehst du denn nicht, wie es uns ergeht? Und wie zur Sicherheit wird die Klage gegen Gott ein wenig flankiert durch die übliche religiöse Praxis: Fasten, also: Bußzeiten einhalten. Darin sind sie sogar ganz gut: die Inszenierung, wie sie sich in Sack und Asche hüllen, wirkt so echt, dass sie es sich fast schon selbst glauben – nämlich dass sie sich anklagen wollen und nicht Gott. Aber so ist es nicht. Und entsprechend hält Gott das für pure Bigotterie. Was für ein Fasten, was für eine Bußübung soll das sein, wenn ihr doch das Gottesrecht brecht? Jeder sorgt zuerst für sich – das ist nicht das Gottesrecht. Die Summe des Gottesrechts, der Thora, kennen sie sehr wohl: Gott lieben und achten und den Nächsten wie sich selbst.
Gut 2400 Jahre später wird ein Übersetzer der hebräischen Bibel, Martin Buber, es so formulieren: Liebe deinen Nächsten, er ist wie du. Also tue für ihn, was du dir für dich selbst wünschen würdest, wärst du in seiner Lage: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Sie wissen, dass es darum ginge, ja, aber jetzt sorgt man sich eben um sich selbst.
In gewisser Weise ist die Situation damals mit unserer Situation jetzt, in der Corona-Krise, vergleichbar. Die Zeit wird lang. Es tut sich nichts. Da ist die Hoffnung auf Lockerung der Einschränkungen, Sehnsucht nach Normalität, vielleicht sogar nach dem guten Leben, das wir gewohnt waren. Erst dachten ja viele: das dauert jetzt 2, 3 Monate. Inzwischen ist es ein Jahr. Dann hieß es: Wenn der Impfstoff kommt, wird alles gut. Aber jetzt kommt er nur zögerlich. Und ob dann alles gut wird, ist auch nicht so klar.
Und so wandelt sich Hoffnung zu Missmut. Und hier und da wächst sich das zu einer ordentlichen Depression aus. Auch die Kinder – so war in den Nachrichten zu hören – zeigen vermehrt Auffälligkeiten, leiden unter dem Mangel an Verlässlichkeit und fehlenden Kontaktmöglichkeiten zu Gleichaltrigen, an Eltern, denen der Geduldsfaden reißt. Dass in einer solchen Situation auch der Zorn wächst – wen sollte das wundern? Und der Zorn muss irgendwohin. Irgendwer muss schuld sein! Und so schimpft man auf die da oben. Das Gefühl, vergessen oder übergangen zu werden, wächst. Aus der Frage: „Was ist mit mir?“ wird: „Ich zuerst.“ Und wenn sich dann noch ein Lokalpolitiker beim Impfen vordrängelt …
Dabei sind wir doch eigentlich gar nicht so. Viele von uns engagieren sich gerne in einem Ehrenamt, für andere. Das ist nicht nur in den Kirchengemeinden so. Umfragen zeigen, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung bereit wäre, ein Ehrenamt zu übernehmen, je nachdem, was es ist und ob es zur persönlichen Neigung und zum vorhandenen Zeitbudget passt. Tatsächlich sind es deutlich weniger, die sich ehrenamtlich betätigen, aber das liegt möglicherweise daran, dass man ihnen nicht das Richtige angeboten hat. Gewiss, alle großen Organisationen im Dienste der Allgemeinheit, die Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, aber auch die meisten Vereine werden kleiner, verlieren Mitglieder, also ehrenamtlich engagierte Menschen.
Aber das hat mit dem Individualismus zu tun, damit, dass man sich schwerer als früher irgendwo einfädelt - über die grundsätzliche Bereitschaft zum Mittun, zum Helfen, sagt das wenig. Die stabilste unter den großen Hilfsorganisationen ist übrigens die Freiwillige Feuerwehr. Und an zweiter Stelle kommen dann schon die Kirchen. Und kleinere, private Initiativen, Gruppen engagierter Menschen, gibt es viele.
Der Psychiater Klaus Dörner, den wir vor einiger Zeit in Goslar zu Gast hatten, behauptet, Menschen seien von Zeit zu Zeit hilfsbedürftig, vor allem aber helfensbedürftig. Eigentlich helfen wir gerne. Es tut uns gut. Es ist wie bei den buddhistischen Mönchen: Legt jemand etwas Reis in ihre Schale, so bedankt sich der Geber, nicht der Mönch. Ich durfte helfen – das tut gut.
Liebe Gemeinde, dieses Motiv prägt auch die Worte Jesajas. Wenn er betont, dass wir doch wissen, woran Gott Wohlgefallen hat, dann schwingt darin mit, dass doch auch wir daran Wohlgefallen haben oder haben könnten: Brich mit dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut. Jesajas Worte über die geknechteten Menschen scheinen hingegen nicht in unserer Zeit zu passen – aber tun sie das wirklich nicht? Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!
Wie schnell Menschen gerade jetzt in wirtschaftliche Nöte geraten, und damit in Abhängigkeiten, das ist uns doch im Grunde klar. Wenn die Insolvenzen sich mehren, vielleicht Arbeitsplätze dauerhaft verloren gehen, wenn dann Kredite nicht abgezahlt werden können, Häuser und Wohnungen verloren gehen, dann werden Menschen das Joch auf ihren Schulter drückend spüren. Deshalb, liebe Gemeinde, ist auch klar, wie gut es täte, ja, wie nötig es eigentlich wäre, dass gerade jetzt Großzügigkeit und nicht Hartherzigkeit die Oberhand gewinnt. Denn dieses „ich zuerst“ ist ungemein ansteckend, wie ein Virus.
Den Ertrag, den wir davon haben, wenn wir in uns der Helfensbedürftigkeitsraum geben, beschreibt der Prophet Jesaja: Es wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir her gehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Wie kann das geschehen?
Nun, liebe Gemeinde, indem wir das, was wir tun sollten, auch tun wollen. Es wird nicht geschehen, wenn in unseren Herzen der Neid und der Zorn und die Missgunst obsiegt oder wenn die Freigebigkeit nur Fassade ist – so, wie Jesaja es seinen Landsleuten vorhält. Es wird auch nicht geschehen, wenn wir uns von Forderungen und Appellen umstellt sehen. Sondern wir müssen mit dem beginnen, was Gott uns verheißt, als wäre es schon da: Heilung, Licht am Ende des Tunnels (das Licht der Morgenröte), Gerechtigkeit, die wir uns nicht zum Schein, sondern aus guten Gründen auf die Fahnen schreiben dürfen.
Mit seiner Zusage macht Gott den Anfang. Denn das ist das Evangelium, das ist die frohe Botschaft. Und sie verändert etwas, verändert uns. Es ergibt Sinn, dass wir mit dem Evangelium beginnen, mit dem was Gott uns gibt und was uns froh machen kann, und nicht mit dem, was wir zu tun schuldig sind. Es ergibt Sinn, nicht mit der Angst um uns selbst zu beginnen, sondern mit dem, was uns sicher und gewiss macht: dass wir angenommen sind, geliebt, gewollt und beschenkt. Einer der bedeutendsten Vertreter des Zisterzienserordens, Bernhard von Clairvaux, hat dieses Bild von der überfließenden Schale geprägt, die wir sind. Gott füllt diese Schale, füllt unsere Herzen mit Gutem. Und irgendwann fängt die Schale an überzufließen.
Wir können gar nicht anders, als von der Fülle, die wir empfangen haben, etwas weiterzugeben. Wo die Schale leer ist, hat es keinen Sinn, aus ihr schöpfen zu wollen. Deshalb hat es in aller Regel keinen Sinn, Menschen zu sagen: Du musst! Du kannst – das ist die Botschaft, die die Welt heilen lässt.
So sei es. Amen
Ewigkeitssonttag 2021 - Hoffnung über den Tod hinaus - Jesaja 65, 17 - 19 und 23 - 25
Liebe Gemeinde, haben Sie die Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja noch im Ohr?
Was für eine Verheißung! Einen neuen Himmel soll es geben, und damit nicht genug: auch eine ganz neue Erde. Was uns in dieser Welt, in diesem Leben beschwert, belastet und traurig gemacht hat – es soll wie weggewischt sein. Kein Weinen mehr, kein Klagen. Und was den Tod betrifft, so verspricht Jesaja zwar nicht, dass es ihn nicht mehr geben wird, aber jene Tode, gegen die unsere Herzen besonders aufbegehren – die wird es nicht mehr geben: kein Kind, das nur wenige Tage lebt, niemand, der mitten aus dem Leben gerissen wird, niemand, der zum Opfer wird von Krieg, Gewalt oder auch Krankheit. Und mehr noch: Es wird ein ganz anderes Leben geben, ohne alles Unrecht: niemand wird um seiner Hände Arbeit gebracht. Wer ein Haus baut, der bewohnt es auch; wer ein Feld bestellt, bekommt auch die Ernte.
Und dann übersteigt Jesajas Vision sogar die Welt von uns Menschen: Selbst unter den Tieren wird Frieden sein. Wolf und Lamm werden beieinander weiden, der Löwe frisst Stroh. Nur der Schlange, diesem Symbol des Bösen, der wird es schlecht ergehen.
Mögen Sie So etwas hören? Können Sie so etwas glauben?
Sie haben im vergangenen Jahr einen vertrauten Menschen hergeben müssen. Bei manchen von Ihnen ist das noch ganz frisch, andere haben schon über ein paar Monate mit der neuen Situation zu leben gelernt. Und natürlich spielt es auch eine Rolle, ob Sie sich schon zuvor darauf einstellen konnten, dass Sie zurückbleiben werden, oder ob es Sie plötzlich ereilt hat. Auch – so muss man wohl sagen – ist nicht jeder Verlust, den der Tod uns zufügt, im gleichen Maße eine Zumutung. Das spricht Jesajas Vision ja aus, dass es einen Unterschied gibt, ob jemand nach einem langen, erfüllten Leben geht oder ob das nicht so ist. Das ist nicht dasselbe für uns, die wir zurückbleiben! – auch wenn der Tod eines geliebten Menschen wohl immer zur Unzeit kommt.
Liebe Gemeinde, Jesajas Vision will trösten. Und dazu malt er eine Welt aus, die ganz anders ist. Das ist nicht die Welt, die wir kennen. Das ist eine himmlische Welt, eine Welt, die ganz auf die Seite Gottes gehört: kein Leid mehr, kein Unfrieden, keine Ungerechtigkeit, keine Trauer.
In mir hinterlässt das zwiespältige Gefühle. Ich frage mich: Wenn es das denn gäbe, würde ich es wollen? Keine Trauer? Kein Zurückschauen auf das, was war? Eigentlich will ich das nicht. Gewiss, Trauer ist etwas Schmerzvolles. Wenn wir jemandem ausmalen sollten, was wir uns unter einem guten Leben vorstellen, dann käme darin Trauer wahrscheinlich nicht vor. Schon die alten Griechen waren der Meinung, das Vermeiden von Schmerz und Leid und die Steigerung des Wohlbefindens oder des Glücks – das sei der Inbegriff des Guten.
In vielen biblischen Texten hingegen werden die Akzente etwas anders gesetzt. So, dass Trauer eigentlich kaum ausbleiben kann. So heißt es zum Beispiel in einer der beiden Schöpfungsgeschichten: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Wir brauchen andere Menschen als Gegenüber, einen Partner, eine Partnerin, Kinder, Eltern, Nachbarn, Freunde und Freundinnen oder einfach die anderen aus der Firma, dem Verein oder der Straße, in der wir wohnen. Das heißt natürlich auch, dass Bindungen entstehen, dass Gefühle ins Spiel kommen. Gut, wenn diese Gefühle beglückend sind.
Aber wir sind doch ganz offensichtlich auch bereit, es zu tragen und zu teilen, wenn etwas nicht so fröhlich und so leicht ist. Macht uns nicht erst das wirklich menschlich, dass wir eben nicht sagen: „Nicht mein Problem – sieh du zu!“ Wir tragen vieles mit, auch wenn es für uns Einschränkungen, Mühe und Verzicht bedeutet: Mit dem Kind Lateinvokabeln lernen, das lieber mit den Freunden spielen will, macht keinen Spaß – aber wir tun es, damit es nicht wieder eine 5 bekommt. Es ist auch nicht schön und stimmt nicht fröhlich, wenn der Urlaub ausfallen muss, weil der Mann oder die Frau ins Krankenhaus kam. Aber wer würde da sagen: „Ach, da sollen sich die Ärzte drum kümmern? Ich kann ja ohnehin nichts tun.“
Nein, was das Leben erfüllt erscheinen lässt, fällt nicht unbedingt ineins mit dem, was leicht, was fröhlich oder lustvoll ist. Sondern ein erfülltes Leben ist Verbundensein, Anteilnahme und Liebe, ist Leichtes und Schweres. Deshalb gehört auch die Trauer mit dazu. Und deshalb gilt, liebe Gemeinde: Es sind nicht unbedingt die Trauernden, um die wir uns die größten Sorgen machen müssen, sondern die, die nichts haben, was sie gegebenenfalls betrauern müssten. Das ist der Grund, warum Menschen sich ihre Trauer nicht nehmen lassen wollen. „Kopf hoch, das wird schon wieder, man muss nach vorne schauen.“ Das kann leeres Gerede sein. Trauer trägt auch etwas Gutes in sich.
Freilich gibt es auch eine Trauer, die zerstörerisch ist. Das ist die Trauer, die sich nicht verändert mit der Zeit. Trauer bindet uns an das, was war. Und eine Zeit lang ist das gut so. Es ist nicht schlimm und nicht besorgniserregend, wenn für eine gewisse Zeit die Gegenwart ihren Reiz verliert. Dann spielen die alten Fotos eine große Rolle, ein Gegenstand, an dem gemeinsame Erinnerungen hängen. Die Dinge müssen da bleiben, da stehen bleiben, wo sie früher auch waren – auch, wenn sie nun niemand mehr benutzt. Dann ruft eine Freundin an und sagt: „Du musst mal raus aus deiner Wohnung und mal wieder unter Leute kommen.“ Aber man hat keine Lust, keinen Antrieb, vergräbt sich lieber, ist lieber allein.
Alles in Ordnung. Aber irgendwann sollte die Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt und für die Zukunft zurückkehren. Denn sonst ist es, als sei die Zeit stehen geblieben, als führe der Zug des Lebens weiter und man bleibt auf dem Bahnsteig zurück. Was es dann braucht, ist die Sehnsucht nach dem Tag, der kommt. Ein bisschen Neugier. Die Tür zu unseren Herzen sollte wenigstens einen spaltbreit offenstehen. Es kommt ja nicht zurück, was war. Aber es mag etwas kommen, das neu ist und das uns dann wichtig wird. Etwas, woran wir wieder unser Herz hängen können.
Ist es das, was Jesajas Zukunftsvision meint? Nun, wohl nicht. Dafür ist seine Zukunftsvision zu groß: Das ist eine ideale Welt, die er beschreibt, eine, in der wir nie wieder betrübt wären, eine Welt, in der uns die Gründe ausgingen, unglücklich zu sein.
Vielleicht lohnt es zu beschreiben, in welche Situation hinein der Prophet diese Vision spricht. Dabei sollten wir die Enttäuschung, die sich einstellte, nicht übersehen. Es ist die Zeit des Exils in Babylon. 50 Jahre lang sind die Israeliten fernab ihrer Heimat, fernab von Jerusalem, das zerstört worden war, festgesetzt gewesen in der Metropole am Ufer des Euphrat, in Babylon. Das galt nicht für die einfachen Leute, die in ihrer zerstörten Heimat zurückgelassen wurden, aber für die Gebildeten und ehemals Einflussreichen. Nun, ein halbes Jahrhundert später, ging diese Zeit zu Ende, denn ein neues Herrschergeschlecht übernahm im Zweistromland von Euphrat und Tigris die Macht: die Perser. Die dort festgesetzten Israeliten erwogen sogar, dass der persische Herrscher, Kyros, von Gott, von ihrem Gott, zu einem Werkzeug seines Heilsplans gemacht worden war. Sie erwogen, dass dieser fremde Herrscher der Messias sein könnte, der von Gott gesalbte König, den er schicken würde, um sein Volk zu erlösen.
Und nun gab es hochfliegende Hoffnungen: Auf den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem und dass die Stadt in neuem Glanz erstrahlen würde. Dass goldene Zeiten anbrechen würden, nicht, wie die alten gewesen waren. Diesmal sollte es gerecht zugehen – wer ein Haus baut, sollte auch darin wohnen, und wer sein Feld bestellt, die Ernte an niemanden abtreten müssen. Es würde Friede sein, ein umfassender Friede, der mehr sein würde als die Abwesenheit von Krieg. Kein Weinen und Klagen mehr. Ja selbst unter den Tieren würde Frieden herrschen, zum Beispiel zwischen Wolf und Lamm.
Sie können es sich denken: es kam anders. Und erst aus der Enttäuschung, die das mit sich brachte, ist Stück um Stück jener Glaube erwachsen, der Ernst damit machte, dass diese Welt nicht das Paradies, nicht das Himmelreich ist, und das Himmelreich nicht wie diese Welt.
Besonders, liebe Gemeinde, wenn man einen lieben Menschen hat gehen lassen müssen, wenn da Trauer ist, wird hier die Frage drängend, worauf wir hoffen können. Der Glaube, der damals entstand am Ende des Babylonischen Exils und dann später auch den christlichen Glauben prägte, geht über das uns Bekannte hinaus. Er stellt uns einen Gegenentwurf vor Augen. Wenn diese Welt dadurch geprägt ist, dass wir nicht Frieden halten können, obgleich wir das immer wieder als Ziel verkünden, dann lässt sich dieser Glaube nicht darin beirren, dass die Welt, die Gott gefällt, nur eine Welt des Friedens sein kann. Wenn wir feststellen müssen, dass die menschliche Geschichte immer wieder ein Oben und ein Unten hervorgebracht hat, riesige Unterschiede zwischen Arm und Reich, und die Schere zwischen beiden sich gegenwärtig eher weiter öffnet, dann hält der christliche Glaube daran fest, dass eine Welt, die in Gottes Sinne ist, allen Menschen gleichermaßen Anteil geben soll und muss an den Gütern dieser Erde.
Wenn wir erschrocken zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir diesen Planeten überfordert haben und es immer noch tun und ihn damit zu verderben drohen, dann hält der christliche Glaube fest, dass Gott etwas anderes will und etwas anderes verheißt: nämlich eine Welt im Einklang zwischen Mensch und Natur, eine Welt, die im Einklang ist mit sich selbst. Und wenn wir feststellen müssen, dass das Leben in dieser Welt eine permanente Abfolge von Glück und Verlust ist, von Schönem und Trauer, dann sagt dieser christliche Glaube, schon von seinen jüdischen Wurzeln her, dass die Zeit kommen wird, wo Gott alle Tränen von den Augen der Menschen abwischen wird und kein Leid mehr sein wird und kein Geschrei und kein Schmerz.
Wir können nicht überprüfen, liebe Gemeinde, ob diese Verheißung stimmt; ob sie eintreffen wird. Aber wir können begreifen und auch erleben, dass dort, wo Menschen diese Hoffnung festhalten und nicht aufgaben, sich bereits jetzt etwas ändert. Eine solche Hoffnung lenkt die Schritte aus den tiefen Tälern ins Freie, so, wie der 23. Psalm es sagt: Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir. Du tröstest mich – und lädst mich schließlich ein an einen reich gedeckten Tisch, dorthin, wo Leben in Fülle ist und wo wir unsere bleibende Heimat finden werden.
So sei es. Amen
Ratsgottesdienst 2024
Liebe Gemeinde,
es war ein preußischer Generalmajor, Carl von Clausewitz, der den viel zitierten Satz prägte, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Dabei nahm er Kriege als gegebene Realität hin, vertrat aber die Meinung, Kriege, die der Verteidigung dienten, seien eine überlegene Form des Krieges. Provokant wirkte dabei seine These, der Krieg beginne eigentlich erst, wenn der Angegriffene sich verteidige – ein Satz, von dem sich beides behaupten lässt: Das ist absolut richtig, denn verteidigt sich der Angegriffene nicht, ist der Krieg ja bereits zu Ende. Aber auch: Das ist absolut falsch, denn die Verantwortung für den Krieg trägt doch der Angreifer, nicht der Angegriffene.
Sie merken schon: Da klingt etwas höchst Aktuelles an. Viele sind der Meinung, es sei unsere moralische Pflicht und vielleicht auch ein Gebot der politischen Vernunft, den angegriffenen Ukrainern aktiv zu helfen, auch mit der Lieferung von Waffen. Aber es gibt auch gar nicht so wenige, die meinen, das Wichtigste sei doch, diesen Krieg und das Sterben in diesem Krieg möglichst schnell zu beenden, also eine Verhandlungslösung herbeizuführen, was immer es koste.
Was ist richtig? Was ist klug? Gerade jetzt, nach dem Wahlausgang in den USA. Aber lassen wir das erst einmal außer Betracht. Was ist gerecht? Was entspricht dem Gebot der Humanität? Im Krieg kommt alles unter die Räder, was uns sonst schützenswert erscheint. Kann Krieg dennoch geboten sein, der Krieg, der der Verteidigung dient?
Die Lehre vom gerechten Krieg geht bis auf die Zeit der Antike zurück. Cicero zum Beispiel fand, ein Krieg könne nur dann gerechtfertigt werden, wenn er um eines erlittenen Unrechts willen geführt werde. Der Gedanke ist dann vielfach aufgegriffen worden, nicht zuletzt von Kirchenvertretern: Augustinus, Thomas von Aquin, Luther und viele andere. Die Lehre vom gerechten Krieg diente also von Anfang an der Einhegung des Krieges, nicht seiner Rechtfertigung. Dennoch konnten die zum Maßstab erhobenen Kriterien sich im Sinne einer Rechtfertigung auswirken. Denn die entscheidenden Fragen lauteten: Was ist ein Rechtfertigungsgrund für einen Krieg? Wer darf Gewalt anwenden? Welche Ziele und Mittel sind legitim? Natürlich spielte dabei die Verhältnismäßigkeit der Mittel eine Rolle, sodass nicht nur das Recht zum Krieg, sondern auch das Recht im Krieg zum Thema wurde. Ciceros Grundgedanke aber hielt sich durch: Krieg ist nur zu rechtfertigen, um Unrecht abzuwehren – der gerechte Krieg ist also in jedem Fall ein Verteidigungskrieg.
Auch in der Reformationszeit, bei Martin Luther, ändert sich das nicht. Selbstverständlich setzte Luther das jesuanische Gebot der Feindesliebe nicht außer Kraft; aber für die nähere Einordnung muss man die Lehre von den zwei Regimentern einbeziehen: Luther war es wichtig, zwischen „schon jetzt“ und „noch nicht“ zu unterscheiden. Die Gebote der Bergpredigt, die als nur sehr schwer erfüllbar erscheinen – und dazu mag das Gebot der Feindesliebe gehören –, ordnete Luther dem Gottesreich zu, dass in Jesus Christus angebrochen ist, aber zugleich seiner Vollendung erst entgegengeht. Im Blick auf die weiter fortbestehende Wirksamkeit der Sünde betont Luther die Notwendigkeit, dass die legitime staatliche Macht dem Bösen Widerstand leistet, nötigenfalls auch mit Gewalt. Lediglich im Blick auf das Gewissen des Einzelnen knüpft Luther unmittelbar an das Gebot der Feindesliebe an und postuliert das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Im Blick auf die Frage nach der Legitimität des Krieges bleibt er bei den vorher beschriebenen Positionen: Krieg kann gerecht sein, wenn er der Abwehr von Unrecht dient.
Lediglich die „Friedenskirchen“, Quäker und Mennoniten, wichen schon früh von der durch die Reformatoren bestätigten Position ab und vertraten einen prinzipiellen Pazifismus, der den Einsatz von Waffen, egal aus welchem Grund, ablehnt.
Bewegung in die Debatte kommt erst im 20. Jahrhundert. Hier kommt Dietrich Bonhoeffer besondere Bedeutung zu, der 1934 bei einer ökumenischen Konferenz im dänischen Fanö in einer Morgenandacht eine Position äußerte, die oft als pazifistisch ausgelegt wurde. Bonhoeffer sah den Krieg heraufziehen und erinnerte daran, dass die Kirche der Leib Christi ist. Da die künftigen Gegner christlich geprägte Länder waren, argumentierte Bonhoeffer, dass ein Krieg der Selbstverstümmelung des Leibes Christi entspräche. Entsprechend forderte er ein kirchliches Konzil, das den Widerstand gegen den drohenden Krieg organisieren sollte. Daraus wurde nichts, nicht zuletzt aus innerökumenischen Gründen.
Allerdings knüpften in den achtziger Jahren Vertreter der evangelischen DDR-Kirchen an Bonhoeffers Gedanken an. Vor dem Hintergrund des Wettrüstens zwischen den NATO-Staaten und den Staaten des Warschauer Paktes forderten sie den Ausstieg aus der Logik der Abschreckung. Das ging in den sogenannten „Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung“ ein, der die friedensethische Diskussion mit der über die ökologische Krise und das globale Nord-Süd-Gefälle verband.
Hinsichtlich der Friedensfrage lag das Augenmerk damit auf dem Thema „Entspannung“ und auf der Frage, was im Vorfeld eines bewaffneten Konflikts gegen ihn unternommen werden kann. Ergebnisse der Friedensforschung flossen in diese Überlegungen ein. Dass damit ein Unbehagen entstand gegenüber der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg, liegt auf der Hand – auch wenn diese Lehre stets darauf ausgerichtet war, dem Krieg Fesseln anzulegen. In einer Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus den Jahren 1993/94 tauchte erstmals der Vorschlag auf, die Lehre vom gerechten Krieg durch eine Lehre vom gerechten Frieden zu ersetzen. Das hieß zugleich, dass man mehr oder minder ausdrücklich die Clausewitzsche Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln verworfen hatte. Die Entwicklung der Waffentechnik zu Nuklearwaffen, deren Einsatz das Ende des Planeten bedeuten konnte, ließ die Überzeugung reifen, der Krieg zwischen Staaten sei ein Auslaufmodell. Zwar machte insbesondere der Angriff auf das World Trade Center in New York deutlich, dass die Welt ganz und gar nicht befriedet war, aber nun schien es nicht mehr um Krieg im klassischen Sinne zu gehen, sondern um die Frage des Umgangs mit Terrorismus. Dass dem mit Kriegen kaum zu begegnen sein würde, sahen die Weitsichtigeren von Anfang an.
Für die evangelische Kirche bedeutet das, dass der Pazifismus eine starke Aufwertung erfuhr. Schon in den sogenannten Heidelberger Thesen, an denen Carl Friedrich von Weizsäcker mitgearbeitet hatte, hieß es, „Abschreckung“ sei „heute noch möglich.“ Man glaubte also, dass die Konfrontation von Staaten mittels Waffengewalt mindestens geächtet werden und vielleicht ganz verschwinden könnte. Da war wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens. Natürlich gab es auch zurückhaltendere Stimmen, wie etwa die des ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Wolfgang Huber, der in Anknüpfung an Max Weber einen „Verantwortungspazifismus“ forderte. Im Klartext hieß das: Die entscheidende Frage ist nicht, ob die Prinzipien, an denen sich dein Gewissen orientiert, gut sind, sondern ob das, was getan oder unterlassen wird, Gewalt und Krieg vermehrt oder eindämmt.
Die hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr formulierte dazu im Gegenüber zu Margot Käßmann, die aus einer pazifistischen Grundhaltung heraus etwa Waffenlieferungen an die Ukrainer ablehnt: „Pazifismus ist eine beeindruckende Haltung, die aber nicht jemand anderem auferlegt werden kann.“ Was wollen die Angegriffenen? Wollen sie sich weiter verteidigen? Ist das realistisch? Und was ist dann unsere Aufgabe, wenn wir einerseits das Völkerecht und das Recht auf Unantastbarkeit der Grenzen verteidigen wollen, und wenn wir andererseits eine Eskalation des Konflikts vermeiden müssen? Was ist verantwortbar im Gegenüber zu einem, der öffentlich verkündet, die Länder, die seinerzeit zum Machtbereich Moskaus gehörten, müssten in Zukunft wieder unter Moskaus Kontrolle?
***
Liebe Gemeinde, als wir begonnen haben, diesen Gottesdienst vorzubereiten, war die Welt noch eine andere. Nicht nur, dass es da in Deutschland noch eine Ampelregierung gab, wenn auch eine heillos zerstrittene – wir hatten die Wahl in den USA auch noch vor uns. Was da auf uns zukommt – auch auf uns, nicht nur auf Amerika – ist noch kaum absehbar. Aber dass das Motto der Politik dort auch weiterhin „America First“ heißen wird – das zumindest ist klar. Und in der Deutung Trumps heißt das vermutlich, dass die Waffenlieferungen an die Ukraine ausbleiben werden. Und es heißt vermutlich, dass die Europäer das nicht ersetzen können. Sicher ist es pure Angabe, dass Trump verlauten lässt, er werde diesen Krieg binnen 24 Stunden beenden. Aber vielleicht neigt er sich tatsächlich seinem Ende zu.
Nur: Was wird das heißen? Was würde es für die Menschen in der Ukraine heißen? Womit müssen Sie rechnen – an Gewalt, an politischer Repression? Und was würde es bedeuten an Druck auf jene Staaten, die nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches in die Selbstständigkeit strebten und vor dem wachsenden Einfluss Russlands Angst haben? Die globalen Machtverhältnisse verschieben sich deutlich – und die Autokraten sind auf dem Vormarsch. Wechselseitige Hochrüstung, wie in der Zeit des kalten Krieges, nur mit anderen Fronten, ist durchaus wahrscheinlich.
Es wäre schon arg überraschend, wenn die Kirchen oder die Christen und Christinnen auf diese ebenso unübersichtliche wie bedrohliche Situation ohne weiteres eine Antwort hätten. Der erste Schritt ist vielleicht, dass wir uns unsere Ratlosigkeit eingestehen. So sehr mich das Stichwort vom Verantwortungs-Pazifismus überzeugt, weil es das Ziel des Friedens festhält, ohne aber naiv die Realitäten zu leugnen, so sehr mich das überzeugt, weiß ich doch nicht sicher zu sagen, was denn die richtigen Schritte wären, um auf lange Sicht Kriege einzudämmen und den Frieden zu stärken. Wo wir es mit irgendwie einsichtsvollen Menschen zu tun haben, wären es sicher Gespräche, Verhandlungen, Kompromisse.
Wo die einsichtsvollen und friedliebenden Menschen fehlen, wird man sicher von Fall zu Fall entscheiden müssen, wann man nachgibt und wann nicht. Der biblische Ratschlag, den Aggressoren die andere Wange darzubieten, gehört in den Kontext des nahe herbeigekommenen Gottesreiches und ist kein Patentrezept. Gerade in dieser unübersichtlichen Situation mag es aber hilfreich sein, noch einmal etwas näher auf Dietrich Bonhoeffer zu schauen. Bonhoeffer war sicher auch 1934, als er ein Konzil des Friedens forderte, kein Befürworter eines prinzipiellen Pazifismus. Er kannte die biblischen Texte gut, die wir vorhin gehört haben und die ja einen Zusammenhang herstellen zwischen Gerechtigkeit und Frieden. Wo Unterdrückung und Unrecht herrschen, ist meist auch der Frieden in der Defensive. Erst wenn es gelingt – und da hatten die Vertreter der evangelischen Kirche, die seit den achtziger Jahren eine Theorie des gerechten Friedens entwickelt haben, sicher Recht. Erst wenn es gelingt, dem Recht und der Gerechtigkeit Raum zu geben, kann jener Frieden entstehen, den das hebräische Wort „Shalom“ meint: ein Zustand, in dem alles zusammenstimmt; ein Frieden also, der viel mehr meint als die Abwesenheit von Krieg und Gewalt. Erst wenn Recht, Gerechtigkeit und Frieden zusammenkommen, kann jene Vision wahr werden, die Jesaja beschreibt: dass die Völker gemeinsam unterwegs sind, jener Welt entgegen, die Gott eigentlich für uns vorgesehen hat.
Ein paar Jahre nach der Friedenskonferenz von Fanö schloss Bonhoeffer sich dem Widerstand gegen Hitler an und befürwortete den Tyrannenmord. Das hat mit Pazifismus nicht viel zu tun. Aber – und das ist mir wichtig – Ihm war sehr bewusst, dass auch ein Tyrannenmord, der dazu dienen soll, das Leben anderer zu bewahren, ein Verstoß gegen das fünfte Gebot bleibt: Du sollst nicht töten. Bonhoeffer nannte das Schuldübernahme. Es gibt Situationen, in denen jede Option Schuld bedeutet. Sich einfach heraushalten ist Schuld. Unrecht dulden ist Schuld. Und Gebote übertreten natürlich auch. Man muss dem Rad in die Speichen fallen, sagte Bonhoeffer. Und das heißt nichts anderes als: Man muss bereit sein, Schuld auf sich zu nehmen, um größere Schuld zu vermeiden.
Diese Überlegung ist mehr als eine akademische Übung. Denn nur so ist es möglich, gut zu nennen, was gut ist, und schlecht, was schlecht ist. Nur so ist es möglich, dabei zu bleiben, was Christen und Christinnen nach dem Zweiten Weltkrieg sagten: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!
Wenn der Krieg – Gott sei‘s geklagt – immer noch eine Option ist, dann offenkundig deshalb, weil es mehr braucht als ein bisschen guten Willen, um ihn aus dieser Welt zu verbannen.
Amen
Die Predigttexte
1. Johannes 4, 16 - 21
Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat: Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Darin ist die Liebe bei uns vollendet, auf dass wir die Freiheit haben, zu reden am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.
Lukas 10, 38 - 42
Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.
1. Samuel 16, 14 - 23
Der Geist des Herrn wich von Saul, und ein böser Geist vom Herrn verstörte ihn.Da sprachen die Knechte Sauls zu ihm: Siehe, ein böser Geist von Gott verstört dich.Unser Herr befehle nun seinen Knechten, die vor ihm stehen, dass sie einen Mann suchen, der auf der Harfe gut spielen kann, damit, wenn der böse Geist Gottes über dich kommt, er mit seiner Hand darauf spiele, und es besser mit dir werde.Da sprach Saul zu seinen Knechten: Seht nach einem Mann, der des Saitenspiels kundig ist, und bringt ihn zu mir.Da antwortete einer der jungen Männer und sprach: Ich habe gesehen einen Sohn Isais, des Bethlehemiters, der ist des Saitenspiels kundig, ein tapferer Mann und tüchtig zum Kampf, verständig in seinen Reden und schön, und der Herr ist mit ihm.Da sandte Saul Boten zu Isai und ließ ihm sagen: Sende deinen Sohn David zu mir, der bei den Schafen ist. Da nahm Isai einen Esel und Brot und einen Schlauch Wein und ein Ziegenböcklein und sandte es Saul durch seinen Sohn David. So kam David zu Saul und diente ihm. Und Saul gewann ihn sehr lieb, und er wurde sein Waffenträger. Und Saul sandte zu Isai und ließ ihm sagen: Lass David mir dienen, denn er hat Gnade gefunden vor meinen Augen. Wenn nun der Geist Gottes über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So erquickte sich Saul, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.
Exodus 3, 1 - 15
Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt. Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land! Und er sprach weiter: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen. Und der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Weil denn nun das Geschrei der Israeliten vor mich gekommen ist und ich dazu ihre Drangsal gesehen habe, wie die Ägypter sie bedrängen, so geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst. Mose sprach zu Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten? Er sprach: Ich will mit dir sein. Und das soll dir das Zeichen sein, dass ich dich gesandt habe: Wenn du mein Volk aus Ägypten geführt hast, werdet ihr Gott dienen auf diesem Berge. Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen? Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt. Und Gott sprach weiter zu Mose: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der HERR, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name auf ewig, mit dem man mich anrufen soll von Geschlecht zu Geschlecht.
Johannes 19, 16 - 30
Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten. Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.
Markus 4, 26 - 29
Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn aber die Frucht reif ist, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.
1. Korinther 13, 1 -13
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen[1], und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Galater 2, 16 - 21
Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch gerecht. Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, sogar selbst als Sünder befunden werden – ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne! Denn wenn ich das, was ich niedergerissen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter. Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.
Offenbarung 21, 1 - 7
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.
Lukas 2, 41 - 52
Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wussten’s nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn. Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss bei denen, die zu meinem Vater gehören? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.
Jesaja 58, 1 - 12
Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! Sie suchen mich täglich und wollen gerne meine Wege wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie wollen, dass Gott ihnen nahe sei. »Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst’s nicht wissen?« Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.
Jesaja 65, 17 - 19 und 23 - 25
Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zur Wonne und sein Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens... Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf und Lamm sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.

 
                
        
    
 
                
        
    
 
                
        
    
