Reden
Zur Eröffnung der Doppelausstellung anlässlich des Reformationsjubiläums in der Marktkirche 2017
Hier stehe ich …
Ein abgebrochener Satz: „Hier stehe ich…“ Passte nicht mehr aufs Plakat? Viele kennen die Fortsetzung des Satzes, der einer der wirklich prominenten Sätze der Geschichte ist: „… ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.“ Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms. Er soll seine Schriften widerrufen und weigert sich. Es folgt die Reichsacht, Todesgefahr, die inszenierte Entführung auf die Wartburg. Dort übersetzt er das Neue Testament aus dem griechischen Original. Der Anfang der Reformation.
Ist das nur eine geschichtliche Reminiszenz, eine Geschichte, die sich gut erzählen lässt, wie die von Hannibal, der mit den Elefanten die Alpen überquerte? Oder geht uns diese Geschichte etwas an, heute und hier?
Die Doppelausstellung „Hier stehe ich…“ stellt die Frage nach der Aktualität der Reformation. Die zweite Hälfte des Zitats ist bewusst weggelassen, weil keineswegs klar ist, dass es uns geht wie seinerzeit Martin Luther. Die meisten Zeitgenossen begreifen sich als Kinder der Aufklärung und des damit verbundenen Freiheitspathos‘, das es ihnen verbietet, etwas als wahr anzusehen, was sie nicht selbst geprüft haben. Wenn Menschen heute für etwas einstehen, dann meist nur für das, was sie ohne Anleitung eines anderen selbst als vernünftig, richtig und gut erkannt haben. Die Unterwerfung unter eine geoffenbarte Wahrheit – das sei ferne.
Und doch gibt es auch Verbindendes zwischen damals und heute. Die Weigerung Luthers, sich vor dem versammelten Reichstag in Worms von seinen Schriften zu distanzieren, gilt durchaus zu Recht als geschichtliche Zäsur. Denn Luther beruft sich auf sein Gewissen. „Ich kann und will nichts widerrufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu tun“, so der tatsächliche Wortlaut des verweigerten Widerrufs. Papst und Konzilien hätten sich nachweislich geirrt oder sich selbst widersprochen. Deshalb kann nicht mehr die äußere Institution, die Kirche, die maßgebliche Instanz sein, die über Wahrheit und Irrtum entscheidet. Die Entscheidungsinstanz wird ins Innere des Menschen verlegt. Und es scheint schon etwas von dem neuzeitlichen Ich auf, um das sich der Kosmos fortan drehen wird.
Gewiss, auch Martin Luther knüpfte an Traditionen an und nahm Gedanken auf, die andere vor ihm gedacht hatten. Der Mythos von dem einsamen Denker, dem beim Studium der Bibel plötzlich das entscheidende Licht aufgeht, stimmt so nicht. Und doch ist es nicht abwegig, bei der Frage, wann denn die Gewissensfreiheit die Bühne der Geschichte betritt, an Luthers Auftritt vor dem Reichstag zu Worms zu denken. Heute gilt die Freiheit des Gewissens wie selbstverständlich als ein Kristallisationspunkt unserer Identität, zumindest in der abendländischen Welt. So sicher wir sind, dass dort, wo die Gewissensfreiheit missachtet wird, alle anderen Freiheiten ebenfalls in Gefahr sind, so sicher sind wir, dass sie ein unhintergehbares Menschenrecht ist.
So gesehen ist die von Martin Luther maßgeblich mitbestimmte Reformation uns nah und fern zugleich.
Die Ausstellung nimmt das Thema „Gewissensfreiheit“auf, indem sie der Biografie des ursprünglichen Eigentümers der Marktkirchenbibliothek, Andreas Gronewalt, nachgeht. Der Halberstädter Kleriker und Notar hatte eine umfängliche Privatbibliothek zusammengetragen; Bücher von Befürwortern und Gegnern der Reformation, aber auch viele Schriften ganz anderen Inhalts bis hin zu naturwissenschaftlichen Werken, wie sie dem humanistischen Geist der Zeit entsprangen. Der kaum überschaubaren Vielzahl der handschriftlichen Eintragungen in seinen Büchern kann man entnehmen, wie intensiv er mit seinen Büchern beschäftigt war. Und noch etwas geht aus den Eintragungen hervor: Gronewalt wandelt sich im Laufe der Zeit von einem Skeptiker gegenüber den Lehren der Reformatoren mehr und mehr zu einem Befürworter. Und das beschert ihm vermutlich Gewissenskonflikte. Denn wenngleich er sich nie öffentlich zum Protestantismus bekennt, stimmt er doch ihren wesentlichen Inhalten zu. Das ist gefährlich für einen, der am falschen Ort wohnt und wirkt. In Halberstadt waren früh reformatorische Bestrebungen im Gang, die im Jahr 1523 scheiterten. Von nun an war es gefährlich, mit protestantischen Einsichten zu liebäugeln oder auch nur ein Buch zu besitzen, das aus der Feder eines Reformators stammt. Zwölf Jahre hielt Gronewalt diesen inneren Spagat durch, bis er 1535 seine Bücher zu seinem Freund Eberhard Weidensee nach Goslar brachte. Er selbst aber blieb in Halberstadt, wo er ein gutes finanzielles Auskommen hatte.
Ist das Opportunismus? Oder ist es der Gebrauch der evangelischen Freiheit, die Luther predigte? Nach Ansicht des Reformators wie seines Lehrers, des Apostels Paulus, erwächst ja zunächst eine Freiheit im Innern des Menschen aus der Rechtfertigung vor oder durch Gott. Kern der protestantischen „Entdeckung“ durch Martin Luther ist die Rechtfertigung „ohne Werke des Gesetzes“, also jenseits der Untadeligkeit und Widerspruchsfreiheit des Handelns der Menschen. Der Glaube allein, also das Vertrauen in Gottes Güte und Barmherzigkeit genügen. Allein dadurch bringt Gott das Verhältnis zwischen den Menschen und ihm zurecht. Das aber bedeutet, dass Fragen der Lebensführung sekundär werden. Natürlich setzte Martin Luther darauf, dass Menschen, die sich von Gott angenommen und geliebt fühlen, selber zur Liebe befähigt werden und deshalb moralisch handeln werden. Aber er wusste auch, dass die Welt überschattet bleibt von Ichsucht, Sünde und Tod. Selbst wer gut sein will, kann deshalb in Situationen kommen, in denen er sich in Schuld verstrickt.
Ist das so eine Situation, wenn jemand um seines Lebensunterhaltes willen seine Überzeugungen öffentlich verschweigt, wie Andreas Gronewalt es offenbar tat? Er brachte seine Bücher und damit sich in Sicherheit, ohne aber aus den Verhältnissen herauszutreten, die er als falsch erkannt hatte.
Weniger mit der Frage des Gewissens, wohl aber mit dem Luther zugeschriebenen Satz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ haben sich acht junge Studenten und Studentinnen der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig auseinandergesetzt. Unter Leitung ihres Lehrers, des Bildhauers Prof. Raimund Kummer, haben sie künstlerische Objekte erschaffen, die die Ausstellung ergänzen. Es ist bemerkenswert, in welchem Maße dieser Satz sie dazu animiert hat, über ihr eigenes Verhältnis zum Leben und über ihre künstlerische Auseinandersetzung damit nachzudenken. In manchen Werken wie zum Beispiel der Installation von Miriam Laage erscheint das Leben als fragil, wie ein Gerüst, das den Alltag tragen soll und doch umzustürzen droht. Die Objekte darin spiegeln Momentaufnahmen der eigenen Existenz, kopfstehend, wie hingehängt, aber auch, wie sie betont, manchmal gehalten.
Ähnlich ist es bei dem Werk von Kathrin Jobczyk, die sich gleichsam selbst unter einer Lupe liegend sieht, eingesponnen in ein weißes Tuch, aus dem sie sich vergeblich zu befreien sucht. Schon dass sie liegt statt zu stehen, ist eine bemerkenswerte, beunruhigende Botschaft.
Luther hatte eine Stabilität, die so weit ging, dass er sein Leben auf’s Spiel setzte: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Er gewann sie aus einer Wahrheit, die ihm vorgegeben schien, aus dem Evangelium. So gesehen war er ein Gebundener, und fühlte sich doch frei, „niemandem untertan“, wie er es formulierte. Solcher Fraglosigkeiten beraubt, ist das Lebensgefühl der jungen Künstler und Künstlerinnen ein ganz anderes: frei von allem, was ihnen vorgegeben sein könnte – und doch eingesponnen, hingehängt, ins Leben geworfen, wie Satre sagen würde.
So aber entsteht ein Dialog mit der Reformation: Wo können wir an sie anknüpfen, wo nicht, und wo würden wir es gerne können?
Thomas Gunkel